Ulrich Ladurner: Wir gehören zusammen

Katholisches Sonntagsblatt 37/2012

Der Euro ist in der Krise – und er wird es noch eine Zeit lang bleiben. Möglich ist auch, dass die Eurozone zerbricht. Doch Europa bleibt eine Schicksalsgemeinschaft.

Solange das Geld stimmt, haben wir uns alle gern, aber wenn das Geld einmal knapp wird, beginnen wir gleich zu streiten. Mit diesem saloppen Satz könnte man die Stimmungslage in Europa zusammenfassen. Jetzt, da der Kontinent in einer tiefen krise steckt, tauchen die alten Ressentiments auf. Der Deutsch eist gnadenlos und hart, der Italiener ein gewissenloser Lebemann, der Franzose ein stolzer, gedankenloser Gockel, der Grieche ein Faulenzer und Schwindler. Wir erleben den Rückfall in den europäischen Nationalismus, der diesen Kontinent im 20. Jahrhundert geradewegs in den Abgrund geführt hat. Das ist traurig, bitter und sehr gefährlich.

„Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit“ – so lautet ein Propagandaspruch des Kriegspressequartiers der österreichisch-ungarischen Monarchie während des Weltkrieges. Natürlich sind wir von einem Krieg weit entfernt, doch die Vorstellung, dass wir grundsätzlich besser sind als die anderen, wird populär; auch die Idee, dass man sich von den anderen, den nichtsnutzen Europäern mit ein paar kurzen Schlägen befreien könne und dann alles wieder gut werde, gewinnt an Zustimmung – ein Schuss, ein Stoß, ein Tritt. Das ist die wahre, die dramatische Gefahr für uns Europäer.

Der Nationalismus beschränkt sich nicht nur darauf, dass er andere Nationen herabwürdigt. In seiner Extremform übt er auch großen Druck nach innen aus. Er will auch in der eigenen Gesellschaft für Ordnung sorgen und alles das aussortieren, was mit der Nation nicht konform ist. Häufig sind es Migranten, die dies als erstes zu spüren bekommen. In einigen – nicht in allen – europäischen Ländern haben ausländerfeindliche Parteien in den vergangenen Jahren Zulauf bekommen. Unser europäischer Kontinent ist aggressiver geworden, hässlicher und abgeschlossener.

Dafür bieten sich zwei Interpretationen an. Die dunkle Interpretation lautet: Wir sind auf dem besten Wege, Europa in Stücke zu schlagen. Die Eurozone wird zerfallen, und nach ihr die Europäische Union. Wir kehren zurück in das 19. Jahrhundert. Die Kleinstaaterei ist das Motto der Zukunft.

Die zweite, hellere Interpretation lautet: Wir Europäer beschimpfen uns derzeit so lautstark, weil wir erkennen, dass wir zusammenleben müssen. Es ist wie mit einer großen Familie, die bisher in getrennten Häusern gelebt hat und nun – unter dem Druck der Krise – gezwungen ist, unter einem einzigen Dach zu wohnen. Missmut, Unzufriedenheit und Aggressivität sind durchaus normale Erscheinungen in jeder Familie, die auf engem Raum zusammenleben muss.

Europa ist so eine Familie. Immer wieder mal streitet sie, dass die Fetzen fliegen, immer wieder beschimpft man sich gegenseitig, doch eine richtige Trennung will nicht gelingen. Denn die gemeinsame Wurzel ist zu stark. Es kann auch sein, dass das, was viele Europäer jetzt als Zwang erleben, irgendwann in die beruhigende Einsicht umschlägt: Wir gehören zusammen – auch in Zeiten der Not.

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