ff 40/2012: Tomas Sedlacek – „Alle auf Entzug!“

ff Südtiroler Illustrierte, 40, 04.10.2012 – Star-Ökonom und Bestsellerautor Tomas Sedlacek war im Rahmen der Transart in Bozen und sprach mit ff darüber, wieso die Zeit der Zahlenspiele in der Wirtschaft endgültig vorbei ist.

ff: Ihr Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“ ist ein Bestseller, Sie reisen für Vorträge um die Welt, sind Sie ein moderner Prophet?

Tomas Sedlacek: Wirtschaftswissenschaftler kommen oft in Versuchung, den Propheten zu spielen, künftige Ereignisse vorherzusagen, das versuche ich nicht. Ich bin, wennschon, ein Prophet, der seine eigene Zeit kritisch beobachtet. Ich suche nach Möglichkeiten, wie wir uns anders verhalten können.

Was beobachten Sie also?
Wir halten unser Zeitalter für postideologisch, dabei ist es das ideologischste überhaupt. Wir sind von Ideologien umstellt, aber wähnen uns in einer Welt der Fakten, Zahlen und Analysen – das ist ja der Kern jeder Ideologie, einen das glauben zu lassen. Aber wir sind es, die bestimmen, was wichtig ist und was nicht – in einer Art von religiösem Prozess.

Also sind Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften im Grunde eine Religion?
Nehmen wir das Beispiel Griechenland. Es geht hier um nichts anderes als um die alte christliche Frage, mit der sich die Theologen seit Jahrtausenden auseinandersetzen: Nach dem Gesetz handeln oder Gnade walten lassen, wenn jemand Schuld auf sich geladen bzw. Schulden hat? Wie oft sollen wir ihm vergeben? Diese Fragen kann man nicht mathematisch beantworten.

Wirtschaftswissenschaftler haben ja einen schlechten Ruf …
Wir, oder besser: der Großteil der Wirtschaftswissenschaftler, hat gemeint, unser System habe keine Fehler, sie glaubten, dieses System durch und durch zu kennen und problemlos ändern zu können. Wir haben so getan, als hätten wir alles in der Hand und jetzt erkennen wir, dass dem nicht so ist. Erst wenn man krank ist, merkt man, ob ein Arzt gut oder schlecht ist. Wir waren schlechte Diagnostiker, wir haben nicht erkannt, dass die Wirtschaft krank ist, und nicht gewusst, wie wir sie behandeln sollen.

Was ist die Diagnose?
Die gängige Diagnose ist, dass die Wirtschaft ein Tief hat, depressiv ist. Ich meine: Die Wirtschaft ist manisch-depressiv. Manisch, wenn es ihr gut geht, depressiv und an Selbstmord denkend, wenn es ihr schlecht geht. Ein manisch-depressiver Patient, das wissen wir aus der Psychiatrie, muss anders behandelt werden als ein depressiver. Antidepressiva allein reichen nicht aus, es genügt nicht, wenn die gute Laune zurückkommt, weil die gute Laune schnell in Manie umschlagen kann. Ich sage: Wir müssen zuerst die manische Phase behandeln. Wenn man ein Problem mit Alkohol hat, genügt es nicht, nur den Kater am nächsten Morgen zu behandeln. Gäbe es gegen den Kater ein Wundermittel, würden wir nur noch mehr trinken. Das ist das Problem des Westens: Wir wollen die Depression loswerden, aber die Manie nicht nur behalten, sondern auch noch verstärken.

In klaren Worten, jenseits der Gleichnisse?
Manisch-depressive Menschen halten sich für Gott und glauben, sie könnten alles erreichen. Sie geben viel mehr Geld aus, als sie haben – so haben auch wir es gehalten. In ihren manischen Phasen sind diese Menschen sehr kreativ und effizient. Wir kritisieren an den Griechen, dass sie nicht effizient und produktiv genug sind, das ärgert mich. Ich bin nicht der herrschenden Meinung, dass die Griechen mehr arbeiten sollten. Wenn die Iren, besonders die Banker, halb so viel gearbeitet hätten, hätte Irland jetzt kein Problem. Dasselbe gilt für die USA.

Wir arbeiten zu viel?
Wir haben keinen Grund, uns nicht zurückzulehnen – wir sind die reichste Generation, die es je gab – wäre da nicht diese angeborene Tendenz, immer mehr zu wollen. Wir wollen einfach zu sehr reich sein, das ist unser Problem. Der Preis dafür ist, dass wir möglicherweise bankrott gehen. Eigentlich ist uns Griechenland ja voraus, wie schon früher in der Geschichte – Griechenland geht einfach schon 10, 20 Jahre vor uns pleite. Danke, sage ich, Griechenland, für die Warnung: Wenn wir so weitermachen, ergeht es uns gleich.

Aber Kapitalismus braucht doch unbedingt Wachstum…
Ich behaupte: nein. Diese Krise ist keine Krise des Kapitalismus, sondern die Krise des Kapitalismus, der einem ständigen Wachstum verpflichtet ist. Man hört es jeden Tag aus den Medien: Wenn die Wirtschaft nicht wächst, bricht alles zusammen – ich glaube nicht daran. Im Moment ist der Kapitalismus wie ein Fahrrad – er muss sich ständig bewegen, um nicht umzufallen.
Wäre es nicht besser, einen Kapitalismus zu pflegen, der wie gehen ist? Ich kann stehen bleiben, ohne umzufallen. Wenn wir dabei bleiben, dass wir ständig wachsen müssen, blüht uns allen das Schicksal von Griechenland: Wir wachsen, bis wir mit Vollgas gegen die Wand fahren. Unser Wachstum ist nicht natürlich, sondern basiert auf geliehenem Geld. Wenn ich mir 10.000 Euro leihe, wird niemand behaupten, dass ich durch das geliehene Geld reicher bin. Wenn hingegen ein Staat sich drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Neuverschuldung erlaubt und im selben Jahr die Wirtschaft um drei Prozent wächst, klatscht jeder Beifall. Das ist dumm, das ist kein Wachstum, weil es auf Schulden beruht – das funktioniert nur einige Jahre lang.

Ist Kapitalismus ohne Wachstum noch Kapitalismus?
Natürlich, wieso nicht? Unser Wohlstand würde einfach stagnieren. Das würde nicht bedeuten, dass wir ärmer werden oder es keine Innovationen oder Investitionen mehr gibt, in Summe wären wir bei null. Bis vor etwa hundert Jahren hat das Innere eines Hauses über die Jahrhunderte immer gleich ausgesehen, technischer Fortschritt und Wachstum waren sehr begrenzt. Dann kam die technische Revolution, dann hat uns das Wachstum überrascht. Und wir haben uns dran gewöhnt und können uns jetzt ein System ohne Wachstum nicht mehr vorstellen.

Jetzt werden viele Kollegen oder Politiker sagen, der Sedlacek ist verrückt…
Ich habe nichts gegen Wachstum, wenn es passiert. Tatsache ist: Wir stagnieren. Und jetzt können wir noch ein paar Jahre lang so tun als ob, dann werden wir uns eingestehen müssen, es geht nicht mehr. Man kann Wachstum nicht erzeugen, wenn man auf einem Segelschiff sitzt und Flaute herrscht. Was tun also? Wir müssen zu den Rudern greifen oder bleiben, wo wir sind – wäre das wirklich Grund zur Sorge? Wir haben in der Vergangenheit die Stabilität dem Wachstum geopfert und jetzt scheint es nicht mehr möglich, stillzustehen. Aber wollen wir wirklich aufs Gas steigen, bis das Fahrzeug explodiert, wollen wir wirklich ein Auto ohne Bremsen fahren? Unseres ist ein verrücktes System, absolut unhaltbar. Wir müssen uns jetzt die Stabilität zurückkaufen.

Wieso sind wir dann so fixiert auf Wachstum?
Weil es alles einfacher macht. Wenn für uns drei zwei Flaschen Bier auf dem Tisch stehen, wie sollen wir sie aufteilen? Wenn ein drittes Bier, Wachstum, dazukommt, sind unsere Probleme gelöst, wir müssen nicht diskutieren. Wir haben fest damit gerechnet, aber was ist, wenn das dritte Bier nicht kommt, wenn Wachstum nicht mehr die Lösung für alle Probleme ist? Das ist ein psychologisches, soziologisches, philosophisches Problem, kein technisches; ein Problem, das wir bisher ignoriert haben.

Die Lösung ist?
In den Jahren mit schnellem Wachstum verlangsamen und in den Jahren mit langsamem Wachstum beschleunigen. Langsamer werden ist definitiv Teil der Lösung.

Wir sind aber so lange mit diesem schnellen Auto gefahren und es hat Spaß gemacht. Wieso sollten wir damit aufhören?
Es hat Spaß gemacht, aber es ist nicht mehr machbar. Wir waren wie auf Droge und jetzt bekommen wir keinen Nachschub mehr. Sollen wir die Wirtschaft weiterhin mit der Droge versorgen, die Verschuldung heißt? Diese Droge wird knapp, sogar für Deutschland. Wir müssen uns darauf einstellen, ohne sie auszukommen, wir müssen auf Entzug.

Aber bedeutet negatives Wachstum nicht Armut?
Mit dem Argument, kein Wachstum bedeute Armut, besinnt sich die Rechte zum ersten Mal in der Geschichte auf die Armen. Wir bräuchten Wachstum, heißt es dann, nicht für uns, sondern für die Armen. Doch wer profitiert in Wirklichkeit vom Wachstum? Die Armen erreicht doch nur ein Bruchteil. Anstatt Geld in Wachstum zu investieren, das es nicht geben wird, sollte man es in Maßnahmen zugunsten der Armen investieren. Europa muss ein bisschen so werden wie Rivendell, das Land der Elfen in “Herr der Ringe”, und nicht wie dessen Gegenspieler Mordor. Es wird natürlich Jahre dauern, etwas zu ändern. Und hier ist die Krise hilfreich – vor drei Jahren noch hätten wir dieses Interview nicht geführt, ohne über Zahlen zu reden. Stattdessen reden wir über Verlangsamung, Gerechtigkeit, Verantwortung.

Gar nicht wenige Politiker sagen: Zurück zum Nationalstaat, zurück zur eigenen Währung.
Europa hat sich doch zum Positiven entwickelt, es ist heute ein viel friedlicherer Ort als noch vor 50 Jahren. Damals hätte man vielleicht überlegt, das geschwächte Griechenland anzugreifen, heute helfen wir dem Land. Handelskriege sind eine Sache der Vergangenheit. Vor 50 Jahren war Irland ein bemitleidenswertes Land, jetzt ist es reicher als Großbritannien; zum Skifahren in die Alpen zu fahren, wäre für uns Tschechen vor 20 Jahren unvorstellbar gewesen. Vielleicht schickt Griechenland irgendwann Geld nach Finnland. Hätte mir vor 20 Jahren jemand gesagt, die Tschechen werden irgendwann die Griechen unterstützen, hätte ich ihn für verrückt erklärt.

Ist es also falsch zu sagen, Griechenland muss raus aus der Eurozone?
Das würde niemandem helfen und nichts lösen. Die Krise gäbe es auch ohne Euro, und ohne Euro wäre sie sogar schlimmer ausgefallen. Wenn wir Griechenland rauswerfen, wer käme dann als nächster dran? Es ist wie in der Geschichte vom Mann, der die Ecken seiner Zeitung abschneidet, weil sie ihm nicht gefallen. Irgendwann bleibt von der Zeitung nichts mehr übrig.

Warum sind Sie Wirtschaftswissenschaftler geworden?
Wirtschaft lässt sich mit allen Bereichen verknüpfen: Philosophie, Kunst, Medien, Geschichte, Politik. Es ist eine sehr fruchtbare und bunte Disziplin, deshalb ärgert es mich, wenn man sie auf Zahlen reduziert. Meine große Liebe gehörte immer der Philosophie, erst durch die Krise habe ich die Wirtschaft mit Philosophie verbunden. Ich habe gemerkt, Geschäftsleute erwarten sich plötzlich Antworten von der Philosophie, weil sie gemerkt haben, Zahlen zu wälzen ist eine zu einfache Antwort.

Jetzt in der Krise soll es die Philosophie richten…
Das ist doch immer so. Erst wenn man drei Tage lang Bauchweh gehabt hat, merkt man, wie gut es tut, kein Bauchweh mehr zu haben.

Wie lebt es sich als Star, Herr Sedlacek?
Das einzige, was ich mit einem Star (engl. für Stern, Anm. d. Red.) gemeinsam habe, ist, dass auch ich tagsüber unsichtbar bin und nachts glänze. Manchmal erkennt mich jemand und spendiert mir einen Drink. Mich mit den Menschen zu unterhalten, ist ein Preis, den ich gern bezahle.
Interview: Georg Mair, Alexandra Kienzl

 

Wilder Hund und Wunderkind

Der Tscheche Tomas Sedlacek, Jahrgang 1977, ist Ökonom, Universitätsdozent, Berater der größten tschechischen Bank und Autor des 2012 auf Deutsch erschienenen Bestsellers „Die Ökonomie von Gut und Böse“ (Hanser Verlag, 448 S., 26,60 Euro). Bereits mit 24 Jahren war der Yale-Stipendiat Sedlacek ökonomischer Berater von Václav Havel, die Yale Economic Review listete ihn schon 2006 als einen der „5 heißesten Köpfe in der Wirtschaft“.

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