Von der Traumstraße zur Transithölle

Neue Südtiroler Tageszeitung, 22.11.2013, Geschichte am Freitag – Die Brennerautobahn prägte Südtirol wie wohl keine andere Verkehrsinfrastruktur vor ihr. Der Bau war ein emotional aufgeladenes Projekt, das auch in seinen politischen Implikationen heftig diskutiert wurde. Die Südtiroler Historikerin Magdalena Pernold hat die veränderte Wahrnehmung der Brennerautobahn zwischen 1950 und 1980 anhand neuer Dokumente erforscht. – von Magdalena Pernold

Die Brennerautobahn prägte als Verkehrsinfrastruktur Südtirol wie vor ihr wohl nur die im Jahr 1867 fertiggestellte Brennereisenbahn. So gehört heutzutage die Benützung der Brennerautobahn zum Alltag eines Großteils der SüdtirolerInnen. Im Zeitraum zwischen 1950 und 1980 änderte sich die Wahrnehmung der Brennerautobahn, was durch die Untersuchung von regionalen Diskursen erkennbar wird.

Der Brenner war als niedrigster Pass der Zentralalpen mit 1372 Metern und seiner leichten Passierbarkeit durch die natürliche Längsausrichtung der zu ihm hinund wegführenden Täler wie geschaffen für den Bau der transnationalen Brennerautobahn. Die Brennerautobahn wurde in Österreich und Italien zwischen 1959 bis 1974 erbaut. Die Notwendigkeit des Baues war aus wirtschaftlicher und verkehrspolitischer Hinsicht sowohl in Österreich als auch in Italien unbestritten. Die Brennerautobahn blieb als technische Konstruktion bis in die Gegenwart mit kleinen Veränderungen als solche erhalten. Im Gegensatz dazu änderte sich aber die Sichtweise auf die Brennerautobahn stark. Auf der Basis regionaler und kommunaler Aktenbestände wird dies durch die Untersuchung regionaler Diskurse erkennbar. Die Methode der historischen Diskursanalyse untersucht die „Geschichte des Sagbaren“, sprich die Geschichte dessen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt werden konnte.

Die „europäische“ Autobahn

Hinsichtlich des Diskurses der „europäischen“ und „verbindenden“ Brennerautobahn wurde die Brennerautobahn als Bauvorhaben wahrgenommen, das einen bedeutenden Beitrag für eine friedvolle und prosperierende Zukunft Europas leisten sollte. Durch die Aufladung der Brennerautobahn als Friedens- und Fortschrittssymbol kam es zu einer Umcodierung des Brenners – vom geistigen Schlachtfeld hin zu einem Sinnbild der Versöhnung. Deutlichstes Beispiel für den europäischen Diskurs in Bezug auf die Brennerautobahn ist die Namensgebung der Europabrücke, die das höchste Bauwerk der gesamten Brennerautobahn war. Der österreichische Bundesminister für Handel und Wiederaufbau, Dr. Fritz Bock, gab ihr diesen Namen beim Spatenstich am 25. April 1959. Die Europabrücke galt als Symbol europäischer Verständigung und angestrebter stärkerer Zusammenarbeit.

Die „Gefahr der Umfahrung“ Tirols und Südtirols durch die „böse“ Schweiz

Im Zuge der Propagierung einer „Gefahr der Umfahrung“ der Gebiete an der Brennerroute und im Speziellen Tirols und Südtirols unterstellten die Akteure der „bösen“ Schweiz, den Verkehr durch Autobahnprojekte in den Schweizer Alpen an sich ziehen zu wollen und dadurch Tirol und Südtirol veröden zu lassen. Das Schreckgespenst einer Umfahrung Tirols wurde von Tiroler beziehungsweise Südtiroler Politikern und Wirtschaftsleuten künstlich aufgebläht als Stimmungsmache für den Autobahnbau. In Tirol und Südtirol wurden insbesondere der Tunnel unter den Großen St. Bernhard (Fertigstellung 1964) und der Tunnel unter den San-Bernardino (Fertigstellung 1967) als Konkurrenz für das heimische Verkehrsnetz angesehen. Lediglich ein möglichst schneller und moderner Ausbau der Brennerroute könne eine Umfahrung noch verhindern.

Die Autobahn als „Tiroler Projekt“

Tiroler Politiker erachteten die nach Südtirol führenden Straßen als wichtige Bindeglieder zwischen Tirol und dem bgetrennten Landesteil Südtirol, welche eine landespolitische Bedeutung hätten. Die Brennerautobahn wurde als eine Möglichkeit gesehen, den Kontakt mit Südtirol auf persönlicher, wirtschaftlicher und kultureller Ebene zu stärken. So erachtete der langjährige Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer, der von 1963 bis 1987 an der Macht war, den Bau der Brennerautobahn als „Tiroler Projekt“, das den Kontakt zwischen Tirol und Südtirol stärken könne. In Südtirol unterschied sich der landespolitische Diskurs von jenem in Tirol. Die Konstruktion der Brennerautobahn wurde in offiziellen Äußerungen durchwegs nicht als ein „Tiroler Projekt“ bezeichnet. Vielmehr wurde eine mögliche weitere Italianisierung Südtirols durch den Bau der Brennerautobahn diskutiert. Die Bedenken hinsichtlich einer weiteren Italianisierung des Landes kennzeichneten auch die politischen Debatten bezüglich des Gründungsstatuts der „Autostrada del Brennero S.p.A.“. Diese Gesellschaft wurde am 20. Februar 1959 gegründet, um vom italienischen Staat die Konzession für den Bau und den Betrieb der A22 zu erhalten. Die Südtiroler Mitglieder des Verwaltungsrates und der Generalversammlung der „Autostrada del Brennero S.p.A.“ erreichten, dass eine ethnische Klausel in das Gründungsstatut der Autobahngesellschaft festgelegt wurde. Obwohl dadurch die proportionale Repräsentation der ethnischen Gruppen für die Provinz Bozen bei der Einstellung von Arbeitskräften theoretisch gewährleistet war, wurde dieses Prinzip nicht weitgehend berücksichtigt. Dies wurde wiederholt von den deutschsprachigen Südtiroler Politikern wie auch von der deutschsprachigen Südtiroler Presse kritisiert. Die „Autostrada del Brennero S.p.A.“ rechtfertigte ihre Vorgehensweise bei der Einstellung damit, dass sie hervorhob, dass Südtiroler Unternehmen die Anforderungen nicht erfüllen könnten oder dass Unternehmen aus anderen italienischen Provinzen billigere Angebote machen würden.

Brennerautobahn als „Traumstraße der Alpen“

Auf regionaler Ebene wurde die Brennerautobahn in der Öffentlichkeit insbesondere in Tirol als „Traumstraße der Alpen“ bezeichnet und auf die Schönheit des Bauwerks verwiesen, wobei die Autobahn als Landschaftsattraktion galt. Die Brennerautobahn galt als herausragende Ingenieursleistung, welche vielfältige technische Innovationen aufweisen würde. Die Brennerautobahn wurde als Grundlage für Wohlstand gesehen sowie als Zeichen für Fortschritt und Moderne. In Südtirol gab es auch lobende Stimmen bezüglich der italienischen Brennerautobahn, indem dargelegt wurde, dass bei der Planung und Projektierung großer Wert auf die Erhaltung der Landschaft gelegt worden sei. Dennoch gab es bezüglich der Trassenführung der A22 in Südtirol mitunter kritische Stimmen. Der Landesverband für Heimatpflege kritisierte die Trassenführung der A22 in Südtirol im November 1967 stark, indem er erklärte, dass die Trassenführung insbesondere im Eisacktal und durch die Autobahndurchquerung Bozens die Landschaft „verschandele“. Daraus entwickelte sich in Folge eine hitzig geführte Debatte.

Transithölle Tirol: Die Euphorie schlägt in Ablehnung um

Im Zuge des immer stärker ansteigenden Transitaufkommens ab den 1970er und verstärkt ab den 1980er Jahren mehrten sich kritische Stimmen im Alpenraum. Es kam langsam zu einem Diskurswandel, indem der Ökologiediskurs den Modernitäts- und Technikdiskurs ablöste und sich die Sichtweise auf die Konstruktion Brennerautobahn änderte. So wurde die Region gegen Ende der 1980er Jahre als „Transithölle Tirols“ bezeichnet. Dieser Prozess fand nicht von einem Tag auf den anderen statt, sondern vollzog sich im Lauf mehrerer Jahre. Das hohe Verkehrsaufkommen wirkte sich auf die Orte längs der Autobahn negativ aus, indem beispielsweise die Nächtigungen von Touristen zurückgingen. Der Autobahnlärm und die Abgase der Fahrzeuge beeinträchtigten die Lebensqualität der Anrainer, welche bis zur zweiten Hälfte der 1970er Jahre nicht durch Lärmschutzmaßnahmen geschützt waren. In Südtirol setzte man sich erst später als in Tirol für Lärmschutzmaßnahmen ein.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich im Zeitraum zwischen 1950 und 1980 die Wahrnehmung der Brennerautobahn stark änderte. Heutzutage würde sich wohl niemand mehr darüber beschweren, dass Südtirol Gefahr laufe, umfahren zu werden, und alles tun müsse, um eine drohende Umfahrung des Verkehrs über die Schweiz abzuwenden. Wer sich heutzutage dafür einsetzen würde, dass eine Gefahr der Umfahrung abgewendet werden müsse, würde sich außerhalb der heutzutage herrschenden Diskurse befinden und demnach kritisch angesehen werden. Es kann nämlich nicht alles zu jeder Zeit gesagt werden.

 

 

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Eine Antwort auf Von der Traumstraße zur Transithölle

  1. forumonline sagt:

    im Pustertal und in Osttirol haben wir noch die Möglichkeit, uns eine weitere „Traumstraße“ zu ersparen indem wir den Salamitaktik-Ausbau der E66 (Ungarn-Oberitalien) verhindern!

    Walter Harpf