Offener Brief: Bagatelleingriffe

Vereinigung Südtiroler Biologen, 30.05.2014 – Die VSB kritisiert in einem offenen Brief an Politiker und Medien die derzeitige Gesetzeslage und Praxis der Bagatelleingriffe:

„Bagatelleingriffe“ stehen für eine wirksame Entbürokratisierung – sie stehen mittlerweile aber auch für die Bagatellisierung vieler wichtiger Aspekte des Landschafts- und Naturschutzes und geraten berechtigterweise zunehmend in die Kritik der Öffentlichkeit.

Um zu vermeiden, dass bei geringfügigen Eingriffen in die Landschaft jedes Mal ein Projekt formuliert und dieses einer Reihe von Genehmigungsverfahren unterzogen werden muss, wurde 1998 das Dekret des Landeshauptmanns Nr. 33 erlassen: Dieses genehmigt u.a. die Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens bei geringfügigen Eingriffen, sprich bei „Bagatelleingriffen“.

Die Planunterlagen für Bagatelleingriffe sind heute auf ein Minimum reduziert und können vom Antragsteller selbst verfasst werden. Sie erweisen sich in der Regel als äußerst dürftig. Spätere Beanstandungen sind daher auch meist schwierig bis unmöglich. Ihre Überprüfung in den Amtsstuben der Gemeinden erfolgt meist rasch und ziemlich unkritisch, handelt es sich ja nur um „Bagatellen“, die schnell abgehandelt werden dürfen. Was ursprünglich lediglich als Erleichterung und Vereinfachung für die Bürger gedacht war, hat sich im Laufe der Jahre durch eine ständige Lockerung von Schwellenwerten, vorwiegend im Bereich der Landwirtschaft, zu einem Freibrief für die Zerstörung wertvoller Natur- und Kulturlandschaft entwickelt. Die folgenden Beispiele zeigen auf, dass diese Entwicklung jeglichen Rahmen der Verträglichkeit und Akzeptanz bereits überschritten hat:

  • So sieht das Dekret Nr. 3 vom 11. Februar 2014, ein Folgedekret des oben genannten D.LH. Nr. 33 vom 6. November 1998, vor, dass nunmehr Forstwege im Bagatellverfahren errichtet werden können, die bis zu 1000 m lang sind, in einem Gelände von bis zu 70% Neigung liegen und mit Stützbauwerken wie Zyklopenmauern, Krainerwänden oder bewehrten Erden bis zu 2,5 m Höhe versehen werden können. Im Dekret von 1998 waren es noch Wege bis maximal 500 m Länge in einem Gelände mit weniger als 60% Neigung und ohne Mauern oder anderen Kunstbauten.
    Um die Größenordnung besser zu verstehen: Die Kosten eines Wegebaus im Bagatellverfahren können sich heute je nach Art der Stützbauten auf 204.000 bis 384.000 Euro belaufen (Baukosten berechnet anhand der Grundpreistabelle für Eigenregiearbeiten der Abteilung Forstwirtschaft). Bei solchen Summen von „Bagatelleingriffen“ zu reden ist absurd.
  • Die Schwellenwerte für Ablagerungen von Aushubmaterial wurden von 500 m³ auf 1000 m³ (= 83 Dreiachser), für Flächenplanierungen unterhalb von 1600 m Meereshöhe von 2500 m² auf 5000 m² verdoppelt.
  • Neu ermöglicht wurde die Errichtung von Mauern im landwirtschaftlichen Grün von bis zu 2,5 m Höhe ohne jegliche Längenbegrenzung (Ausnahme: Betonmauern).

Das Dekret 3/2014 erlaubt aber nicht nur überdimensionierte Eingriffe, sondern enthält auch Ungereimtheiten bezüglich der Rechtslage:

  • Im Dekret wird nicht explizit auf das bestehende Naturschutzgesetz verwiesen. Der Vereinigung Südtiroler Biologen liegen Beispiele vor, wo im Bagatellverfahren Lebensräume (z.B. Moore) zerstört worden sind, die laut Naturschutzgesetz und EU-Richtlinie unversehrt bleiben müssen – unabhängig davon, ob sie als besonderes Schutzgebiet ausgewiesen sind oder nicht. Diese Lebensräume, wie auch Populationen geschützter und gefährdeter Tier- und Pflanzenarten, fallen „Bagatelleingriffen“ zum Opfer, weil die Fläche, auf der sie vorkommen, zu klein für eine verpflichtende naturschutzfachliche Bewertung vor dem Eingriff ist. Allerdings steht im Naturschutzgesetz nichts von einer Mindestgröße eines geschützten Lebensraumes oeder einer Population. Sich nur an die Auflagen der Bagatelleingriffe zu halten, ist daher fahrlässig.
  • Der Bau eines Waldweges im Bagatellverfahren setzt die Rodung von Wald voraus. Rodungen sind nun aber uneingeschränkte Kompetenz des Landes (Landschaftsschutzgesetz Nr. 16, Art. 12/i vom 25. Juli 1970) und nicht der Gemeinde. Sie „…unterliegen der Ermächtigung durch den Direktor der Landesabteilung Natur und Landschaft“ und sind „…in allen Fällen einer vorherigen Begutachtung unterworfen“.
  • Im Bagatellverfahren können mittlerweile Rohrleitungen so dimensioniert werden, dass sie sogar als Druckleitungen für E-Werke verwendet werden könnten. Dies ermöglicht einen zukünftigen Missbrauch.

Die Vereinigung Südtiroler Biologen steht den Bagatelleingriffen im Bereich der Landschaft äußerst kritisch gegenüber. Wenn Bürgermeister ohne seriöse Planungsunterlagen über einen Eingriff in die Landschaft und in die Natur entscheiden können, dann seien folgende Fragen erlaubt:

  • Ist der Bürgermeisterin/dem Bürgermeister bewusst, dass sie/er möglicherweise gegen bestehende Naturschutzgesetze und EU-Richtlinien verstößt? Bestehende Gesetze werden durch das Dekret nämlich nicht außer Kraft gesetzt, d.h. Bürgermeister können auch rechtlich belangt werden, wenn sie – auch unwissentlich – z.B. die Planierung von Lebensräumen gewähren, die nach dem Naturschutzgesetz nicht zerstört werden dürfen.
  • Ist sich die Bürgermeisterin/der Bürgermeister bewusst, dass sie/er einen Bagatelleingriff nur unter der Beachtung der Auflagen des Gefahrenzonenplanes, der Schutzwaldkartierung, des Trinkwasserschutzes, bestehender hydrologischer Gutachten usw. wirklich verantworten kann? Die Frage muss lauten: Wer haftet dafür, wenn z.B. Murenabgänge in ursächlichem Zusammenhang stehen mit genehmigten Bagatelleingriffen, bei denen die Verkürzung des Amtsweges ganz offensichtlich wichtiger war als die seriöse Abklärung möglicher Gefahren?

Grundsätzlich sind vereinfachte Genehmigungsverfahren berechtigt, aber die Projekte, die damit abgewickelt werden können, übersteigen mittlerweile verantwortbare Ausmaße und vertretbare Kosten. Dies gilt in erster Linie für die im Dekret 3/2014 unter dem „Anwendungsbereich“ aufgelisteten ersten sechs Punkte, welche Eingriffe in die Landschaft betreffen. Die letzten Wetterkapriolen haben z.B. gezeigt, wie anfällig Hänge bei außerordentlichen Niederschlägen sind. Deshalb ist es mehr als angebracht, dass sowohl die Planung als auch die Bewertung der Eingriffe durch Fachleute erfolgt.

Die Vereinigung Südtiroler Biologen sieht im derzeitigen „Dekret zur Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens bei geringfügigen Eingriffen“ einen Freibrief für die Zerstörung von ökologisch hochwertiger Natur sowie eine Nicht-Beachtung öffentlichen Interesses. Die Unversehrtheit von hochwertiger Natur, die Achtung vor der Landschaft und der Schutz vor den Naturgefahren stehen im öffentlichen Interesse und daher klar über dem von Privatpersonen. Der Öffentlichkeit muss gerade bei Eingriffen in das landwirtschaftliche Grün umso mehr ein Mitspracherecht zugesprochen werden, als die Landwirtschaft von der öffentlichen Finanzierung maßgeblich abhängt (siehe EU-Fördergelder im Rahmen des ländlichen Entwicklungsplanes).

Die Vereinigung Südtiroler Biologen fordert die Landesregierung auf

  • die Punkte 1-6 des Art. 1 des Dekrets 3/2014 völlig zu überarbeiten und Bagatelleingriffe auf wirklich geringfügige Eingriffe zu reduzieren,
  • bei Bagatelleingriffen im Bereich des landwirtschaftlichen Grüns Fördermittel aus öffentlicher Hand nicht mehr vorzusehen,
  • bei Eingriffen in die Landschaft dafür zu sorgen, dass auch bei Bagatelleingriffen Konflikte mit dem Gefahrenzonenplan sowie dem Naturschutzgesetz von vornherein beseitigt werden. Das heißt, in Zonen mit jeglicher Art von Nutzungseinschränkung („Vinkulierung“) ist der verkürzte Amtsweg von vornherein auszuschließen.

Die Vereinigung Südtiroler Biologen appelliert an die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister

  • sich ihrer oben geschilderten (rechtlichen) Verantwortung bewusst zu sein und bei jedem Eingriff in die Landschaft auf alle bestehenden Gesetze, Gutachten, Pläne und sonstigen Unterlagen Bezug zu nehmen,
  • dafür zu sorgen, dass jeglicher Eingriff in die Landschaft von Fachkundigen im Zivil- und Naturschutz abgesegnet wird. Es dürfte vielfach genügen, wenn ein seriöser Ortsaugenschein in Begleitung des Naturschutzreferenten der Gemeinde oder eines Försters erfolgt. In Zweifelsfällen muss ohnehin auf Experten (Landesbeamte oder Freiberufler) zurückgegriffen werden, um einen möglichen Gesetzeskonflikt zu vermeiden.

Dr. Norbert Dejori
Vorsitzender der
Vereinigung Südtiroler Biologen

30.05.2014

Dieser Beitrag wurde unter Pressemitteilungen abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.