Wie Bruneck zur glücklichsten Kleinstadt wird

2015-03-01-4368

Bruneck führt 2015 zum zweiten Mal in Folge die Rangliste der „borghi felici“, der lebenswertesten Kleinstädte Italiens im „Sole 24 Ore“ an. So eine Meldung wird natürlich sehr gerne aufgenommen und verbreitet. Aber vielleicht sollte man sich auch einmal etwas näher ansehen, worum es sich eigentlich genau handelt und was das Ergebnis aussagt.

Bruneck habe das beste Ergebnis von über 8.000 Gemeinden, wurde gesagt. In Wirklichkeit bezieht sich die Untersuchung, die das Institut „Centro studi Sintesi“ für Il Sole 24 Ore erstellt hat, nur auf Kleinstädte mit bestimmten Grundeigenschaften, die aus den 8.047 Gemeinden Italiens herausgefiltert wurden: Gemeindefläche zwischen 9,6 und 83,7 km² und Einwohnerzahl zwischen 5.000 und 50.000 – damit fallen bereits 6.437 Gemeinden weg. Des weiteren ist verlangt, dass die Bevölkerungsdichte zwischen 107,5 und 703,5 Einwohnern/km² liegt und die Bevölkerung zwischen den letzten beiden Volkszählungen nicht geschrumpft ist. Außerdem wird ein Ausländeranteil von mindestens 4% und höchstens 13,5% benötigt und der Männeranteil in der ausländischen Bevölkerung muss zwischen 40 und 57% liegen. Maximal 26% der Bevölkerung darf über 65 Jahre alt sein und mindestens 69,5% müssen steuerpflichtig sein. Das mittlere Einkommen laut Steuererklärung 2014 muss mindestens 18.587 € betragen, es müssen auf 100 Einwohner zwischen 50 und 73,2 Autos gemeldet sein und mindestens die Hälfte davon muss in der Klasse Euro 4 oder höher sein.Die Bankeinlagen pro Kopf müssen mindestens 11.735 € betragen, es muss in der Gemeinde mindestens 3 Bankschalter geben, und auch einige klimatische Bedingungen müssen gegeben sein: monatliche Durchschnittstemperatur zwischen -5,7° und 16,5°, mittlere Temperaturdifferenz 5° bis 11,7° und zwischen 5,3 und 8,3 durchschnittliche Niederschlagstage im Monat. Übrig bleiben 158 Gemeinden, knapp 2% aller Gemeinden. In Südtirol bleiben neben Bruneck noch Sterzing, Neumarkt, Eppan, Lana und Kaltern übrig. Brixen und Meran z. B. liegen zwar zwischen 5.000 und 50.000 Einwohnern, Brixen ist aber um ein paar Quadratkilometer zu groß und Meran weist einen zu hohen Ausländeranteil auf, beide Gemeinden wurden also, wie viele andere, nicht weiter untersucht.

Es ist klar, dass hier auf eine besondere Typologie von Gemeinden abgezielt wird und dass ein großer Teil der Eigenschaften kaum von der Verwaltung oder der Gesellschaft abhängen, sondern einfach Rahmenbedingungen sind. Von den 158 ausgesuchten Gemeinden liegen 43 in der Emilia Romagna, 34 im Veneto, 29 in der Lombardei, je 15 im Piemont und in Trentino-Südtirol, 10 in Friaul-Julisch Venetien, 7 in der Toskana, je 2 in Ligurien und den Marken und eine in Umbrien. Mittelitalien ist also nur vereinzelt und Süditalien und die Inseln sind überhaupt nicht vertreten. Dort nützen auch die rührigste Stadtverwaltung und das vitalste Gemeinwesen nichts. Auch wenn die Methodik bemüht ist, nicht nur das Geld als Maßstab zu nehmen, sind klassische Kriterien des „Wohlstands“ doch ausschlaggebend.

Die verbliebenen 158 Gemeinden wurden dann anhand von 47 Indikatoren in 8 Bereichen untersucht. Davon sind 26 auf Gemeindeebene verfügbar, 14 auf Provinzebene, 6 auf Regionenebene und einer bezieht sich auf die Klimaregion. Die Gemeindedaten werden höher gewichtet. Hier kommt auch schon ein Grundproblem derartiger Untersuchungen zum Vorschein: Wenn man eine Vielzahl an Gemeinden vergleichen will, muss man sich auf Daten beschränken, die laufend für alle Gemeinden verfügbar sind, und das sind größtenteils Grunddaten, die keine besondere Aussagekraft für komplexe Fragestellungen wie Umwelt, Lebensqualität oder sozialen Zusammenhalt haben. Weiterführende Untersuchungen oder eigene Erhebungen sind zu aufwändig und müssten dann jährlich wiederholt werden. Die Aussagekraft, wie gut es sich in einer Gemeinde lebt oder ob man dort sogar besonders „glücklich“ ist, bleibt zwangsläufig begrenzt. Das wird deutlich, wenn man die einzelnen Bereiche näher betrachtet:

Materielle Lebensbedingungen: Hier werden das Durchschnittseinkommen der natürlichen Personen laut Steuererklärung 2014, die Bankeinlagen pro Kopf, die Autos der Klasse Euro 4 und höher je 100 Einwohner, der Prozentsatz der Unternehmen in einem Konkursverfahren, die Beschäftigungsquote auf Landesebene, die Busse je 100 Einwohner und die Länge der örtlichen und überörtlichen Straßen je km² verwendet. Bruneck liegt hier an 3. Stelle, beim Einkommen an erster Stelle. Ein Grund dafür dürfte die hohe Anzahl an Beschäftigten in einigen Großbetrieben sein, ein hoher Anteil an abhängig Beschäftigten lässt bekanntlich das durchschnittliche IRPEF-Einkommen ansteigen. Generell ist es hier natürlich von Vorteil, in einer der Provinzen mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen zu leben. Entsprechend hoch sind allerdings auch die Lebenshaltungskosten, und ob ab einem gewissen Punkt ein höheres Einkommen mehr Wohlbefinden bedeutet, wird nicht nur von Sprichwörtern, sondern auch von der Wissenschaft in Frage gestellt. Auch wird nichts zur Einkommensverteilung ausgesagt.

Bildung und Kultur: Hier geht es um die durchschnittliche Klassengröße in den Grundschulen, die Grundschulklassen je 1000 Einwohner, den Prozentsatz der Drei- bis Fünfjährigen, die öffentliche Kindergärten besuchen sowie die Bibliotheken je 1000 Einwohner. Für die Quote an Oberschulabgängern und die Besuchsquote der Oberschulen werden die Daten auf Landesebene verwendet. Hier steht Bruneck an neunter Stelle. Es handelt sich um sehr grobe Indikatoren, kleine Klassengrößen mögen z. B. vorteilhaft sein, sagen aber nicht alles über Qualität aus, und die Zahl der Bibliotheken sagt auch nicht viel über das Kulturleben im allgemeinen. Bruneck steht mit seinem reichhaltigen Bildungsangebot, seiner neuen Bibliothek und seinem kulturellen Leben sicher nicht schlecht, aber die verwendeten Zahlen geben das nicht wieder.

Teilnahme am politischen Leben: Hier wurden die Beteiligung an den Europawahlen 2014, einige Indikatoren zu Steuern und Gemeindefinanzen (Prozentsatz der Steuerpflichtigen, Finanzautonomie der Gemeinde, Einzugskapazität, Ausgabekapazität, Prozentsatz Personalausgaben auf laufende Ausgaben) und die Anzahl der Freiwilligen je 100 Einwohner auf Landesebene verwendet. Bruneck landet in diesem Bereich nur auf dem 114. Platz, was wohl hauptsächlich an der niedrigen Wahlbeteiligung infolge des Rentenskandals und an einigen Besonderheiten der Gemeindenfinanzierung in Südtirol liegt. Auch hier sagen die Indikatoren nicht wirklich etwas aus darüber, wie gut die Bevölkerung in politische Prozesse eingebunden ist, aber dafür stehen keine Zahlen zur Verfügung, die einen flächendeckenden und laufenden Vergleich möglich machen.

Soziale Beziehungen: Bruneck liegt hier an neunter Stelle, die Bewertung beruht auf dem Prozentsatz der ansässigen Bevölkerung mit ausländischer Staatsbürgerschaft, dem Frauenanteil an der ausländischen Bevölkerung, dem Anteil der über 65-Jährigen an der Gemeindebevölkerung sowie der Frauen- und Jugendarbeitslosigkeit auf Landesebene. Auch hier werden die Indikatoren der Überschrift nicht gerecht. Der Anteil an Ausländern und älteren Menschen ist sicherlich relevant für das soziale Leben, aber was hier reine Prozentsätze über Qualität aussagen, bleibt fraglich. Bei der Arbeitslosigkeit spielen vor allem regionale Faktoren eine Rolle und sie ist auf Gemeindeebene gar nicht verfügbar, da sie auf regionalen Stichprobenerhebungen beruht.

Sicherheit: Hier werden auf Gemeindeebene die Anzahl PKW je km Straßennetz und die Risikoklasse für Erdbeben sowie auf Landesebene die Beschäftigungsquote der ausländischen Bevölkerung und die Zahl der Diebstahl- und Raubdelikte je 1000 Einwohner verwendet. Bruneck landet an 10. Stelle. Die Fahrzeugdichte ist auf Gemeindeebene de facto eine sehr willkürliche Zahl, die auch von der geografischen Struktur abhängt. Die registrierten Straftaten sind sicher ein Indiz für die Sicherheitssituation. Insgesamt ist auch hier vor allem das regionale Umfeld von Bedeutung, und wie die Sicherheit allgemein empfunden wird, hängt auch von vielen anderen Faktoren ab.

Umwelt: Hier liegt Bruneck auf dem ersten Platz. Da mag man gleich an einige Errungenschaften wie Fernwärme, Citybus oder Energy Award denken. Die spielen in der Bewertung allerdings keine Rolle. Hier zählt der Anteil der Fahrzeuge der Klasse Euro 4 und höher, der Prozentsatz der Mülltrennung (allerdings auf Landesebene), der mittlere Temperaturunterschied (bezogen auf die gesamte Klimaregion) und die Zahl der Luftmessstationen je 100.000 Einwohner auf Landesebene. Salopp formuliert gewinnen wir hier, weil wir viel Geld für Autos ausgeben, weil wir Messtationen haben (was sie messen, ist nicht gefragt), weil wir klimatisch nicht schlecht liegen und weil die Mülltrennung im Landesdurchschnitt auf einigermaßen gute Werte kommt. Genau im Bereich Müllsammlung gibt es italienweit sehr große Unterschiede zwischen den Gemeinden, weshalb die Daten auf regionaler Ebene nicht geeignet sind. Bruneck käme hier auf einen guten Wert, der sich allerdings nicht im nationalen Spitzenfeld bewegt. Insgesamt dürfte Bruneck bezüglich Umweltpolitiken nicht schlecht dastehen, nur sagt diese Bewertung dazu praktisch nichts aus und ein effektiver Vergleich mit anderen Gemeinden würde vertiefte Analysen erfordern, die im Rahmen einer solchen Arbeit nicht möglich sind.

Persönliche Aktivitäten: Hier werden auf Gemeindeebene Restaurants, Bars und Reisebüros je 1000 Einwohner und auf Landesebene verkaufte Kinokarten, Eintritte und Kinos im Verhältnis zur Einwohnerzahl sowie der Prozentsatz der Zeitungsleser und der Sporttreibenden laut ISTAT-Mehrzweckerhebung verwendet. Bruneck steht auf Platz 13. Hier profitiert die Stadt vor allem von ihrer Zentrumsfunktion (die Einrichtungen werden auch von der Bevölkerung der umgebenden Gemeinden genutzt) und von der zusätzlichen Nachfrage durch den Fremdenverkehr. Allerdings sind auch diese Indikatoren sehr grob und beziehen sich fast ausschließlich auf das Konsumverhalten, also mehr auf Lebensstandard als auf Lebensqualität.

Gesundheit: Hier stellt eine Gemeinde dieser Größenordnung schlicht keine geeignete statistische Einheit dar. Nur die Anzahl der Apotheken je 10.000 Einwohner wird auf Gemeindeebene verwendet, auf Landesebene kommen der durchschnittliche stationäre Aufenthalt in Krankenhäusern, die Todesrate durch Tumore, die Geburtenrate und die Sterberate dazu. Die Zahlen sagen allesamt nichts über die spezifische Gesundheitssituation in einer Gemeinde aus. Bruneck landet auf Platz 11, eine Apotheke mehr oder weniger hätte vermutlich einen großen Unterschied gemacht.

Insgesamt lässt sich folgern, dass Brunecks Spitzenplatz wohl erfreulich sein mag und sicherlich kein schlechtes Zeichen ist, aber dass die Aussagekraft der gesamten Rechenübung begrenzt ist, vor allem wenn man sie dem Anspruch gegenüber stellt, ausfindig zu machen, in welcher Kleinstadt der Republik es sich am besten oder gar am glücklichsten lebt. Das soll keine Kritik an dieser spezifischen Erhebung sein – sie folgt durchaus gängigen Methoden und ist vergleichbar mit manch anderen Rankings unterschiedlicher Natur, die uns immer wieder in verschiedenen Medien präsentiert werden. Bei näherer Betrachtung sagen die meisten nicht sehr viel aus. Oft kommt solchen Hitparaden kaum mehr als ein gewisser Unterhaltungswert zu, sie sind wohl symptomatisch für unsere Zeit, in der zwar ein großer Teil der Menschen fast mit Stolz behauptet, mit der Mathematik auf Kriegsfuß zu stehen, sich aber sehr beeindrucken lässt, wenn irgendwelche Experten Aussagen mit Zahlen oder, noch besser, mit Ranglisten begleiten.

Indikatoren können hilfreich sein, einzelne Sachverhalte besser zu verstehen und einzuordnen, aber sie müssen als das betrachtet werden, was sie sind: Zahlen, Messergebnisse, die Hinweise geben können, aber nicht die Realität. Komplexe Fragen können nicht einfach durch Messungen beantwortet werden, vor allem, wenn dabei menschliches Verhalten und Werte im Spiel sind. Es ist positiv, wenn man versucht, über das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als einzigen Indikator für Wohlstand hinaus zu gehen und auch andere Aspekte als das Geldverdienen berücksichtigt. Aber wie gut es uns geht und was gesellschaftlich und politisch zu tun ist, das lässt sich nicht einfach anhand einer Zahl bestimmen.

Damit soll jetzt nicht behauptet werden, dass Bruneck keine hohe Lebensqualität bietet. Insgesamt dürften wohl die meisten der Meinung sein, dass es sich hier recht gut lebt. Wir profitieren von einer sehr schönen landschaftlichen Lage, von einer differenzierten Wirtschaftsstruktur, von einer ausgeprägten Funktion als Zentrum des Pustertals, das nach wie vor ein relativ selbständiger Wirtschaftsraum ist, gerade weil es in einer gewissen Distanz zur Landeshauptstadt liegt und keine Autobahn hat. Wir profitieren vom Faktor Fremdenverkehr in der gesamten Region. Wir profitieren von einem regen gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Aber, wie schon angedeutet, gerade in unserer Gegend wird sehr gerne Lebensstandard mit Lebensqualität gleichgesetzt. Wie gut es sich lebt, hängt natürlich auch vom Materiellen ab. Aber wenn man das Wort „Glück“ bemühen will, zählt nicht nur Materielles, sondern es geht in erster Linie um menschliche Beziehungen, soziales Umfeld und persönliche Werte. Und daran ist tagtäglich zu arbeiten.

Der Punkt „Bescheidenheit“ wurde in der Untersuchung auf jeden Fall nicht behandelt. Er wäre auch schwer in Zahlen zu fassen. Mein Eindruck ist allerdings, dass Bruneck in diesem Bereich nicht die besten Karten hätte. Dazu sind wir wohl zu sehr gewöhnt daran, das Beste zu haben und die Besten sein zu wollen, auf allen Ebenen. Ein aktuelles Beispiel: Wir bauen in Bruneck kein neues Eisstadion. Nein, wir setzen einen Meilenstein, ein neues Wahrzeichen, wir bauen ein Wunderding, um das uns halb Europa beneiden wird. Eben, ein bisschen Bescheidenheit… auch Normalität hat ihre Vorzüge. Und auch in Landstrichen, die selten einmal Schlagzeilen machen, lebt es sich zuweilen ganz gut. Manchmal gerade dort.

14.09.2015
Hanspeter Niederkofler

http://bruneckbrunico.wordpress.com/2015/09/14/gluecklichste-kleinstadt/

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