Cicero.de: Deliberative Demokratie ist purer Paternalismus

23. März 2012, von: stiftung neue verantwortung

Bürgerbeteiligung wie im Zukunftsdialog der Kanzlerin heißt: der Bürger darf mitreden. Gut und richtig? Nein, ganz falsch, und sogar eine gefährliche Vorstellung, meint Dr. Christopher Gohl. Seine These: das eigentliche Potential der Bürgerbeteiligung liegt nicht in der Verständigung, sondern in der Veränderung.

„Merkel holt sich Ratschläge von Mitbürgern“, notierte der Stern. „Merkels Zukunftsdialog: ‚Ich bin hier, um auf Sie zu hören’“, berichtete das Hamburger Abendblatt ganz atemlos: „100 Bürger durften in Erfurt mit einer ungezwungenen Merkel diskutieren.“ Dazu erläutert die Webseite des Zukunftsdialogs: „Die Kanzlerin will (…) nicht nur mit Wissenschaftlern und Praktikern über Deutschlands Zukunft sprechen, sondern auch die Ideen der Bürgerinnen und Bürger und der Zivilgesellschaft kennenlernen und diskutieren.“ Da darf man dann schon mal auf „Bürgernähe nach US-Manier“ (n-24) hoffen.

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Nein – Bürgerbeteiligung als Diskussion ist ein Sprint in die Sackgasse. Zwar ist die Vorstellung populär, Bürgerbeteiligung bedeute argumentativen Austausch, möglichst in Form eines herrschaftsfreien Diskurses mit ungezwungenen Politikern. So populär, dass gar die Hoffnung auf „Regierung durch Diskussion“ gepflegt wird. Aber das ist eine kontraproduktive Vorstellung von politischer Beteiligung. Denn die damit verknüpften Rollen zwischen Regierenden und Regierten sind nicht von morgen, sondern von gestern. Das damit verbundene Verständnis von Politik gehört in den Bereich der Träume, nicht der Realität. Und der politische Effekt ist Frustration der Bürger über die Politik, nicht die Befreiung der Bürger zur Politik.

Schauen wir uns „Bürgerbeteiligung als Diskussion“ einmal genauer an – zugegebenermaßen etwas pointiert durch polemische Dialektik: Da hat die Politik ein Problem, das die Bürger lösen helfen sollen. Da fehlt eine Zukunftsvision für den Radwegeplan 2030, da besteht ein Konflikt zu einer Umgehungsstraße, da soll – wie im Zukunftsdialog der Kanzlerin – die Zukunft des Landes diskutiert werden. Dazu bittet die Politik Bürger – und natürlich Bürgerinnen, die Quote muss stimmen – an einen Tisch, rund ist er meistens, er steht im Rathaus oder im Ministerium, und es gibt einen freundlichen Moderator, denn am besten sollen alle mal drankommen. Dann tagen die Bürgerinnen und Bürger, besprechen und respektieren sich, und alles ist fast ganz herrschaftsfrei. Die junge Frau am Tisch hat eine schöne Handschrift und muss die bunten Kärtchen ausfüllen. Ein Bericht entsteht. Den dürfen am Ende ein paar Bürgerinnen und Bürger dann vorstellen. Die Politik oder das Amt hören zu. Sie machen ernste Gesichter, zeigen sich überrascht und nicken anerkennend. Übergabe des Berichts am Sonntag, Gruppenfoto „Politik im Dialog“. Salbungsvolle Worte: Gut, dass wir darüber geredet haben, neue Perspektiven, darüber wird dann jetzt mal nachgedacht.

„Deliberative Demokratie“ nennen die Experten das. Hinter dem Konzept stecken kluge Köpfe aus den USA, Professoren wie James S. Fishkin, Amy Gutman, David Held, Seyla Benhabib und John Rawls. Ein kluger Kopf aus Deutschland: Jürgen Habermas. Ihre Theorie ist ja gut und richtig: Macht muss sich rechtfertigen, Rechtsetzung wird durch Verständigung und rationale Argumentation legitimiert, Wahrheit kann nur intersubjektiv geteilte Wahrheit sein. Jeder soll beteiligt sein und seine Perspektive einbringen. Inklusion, Respekt, Fairness, Reziprozität, intersubjektive Verständlichkeit und Überprüfbarkeit sind wichtig. Dann führt das gemeinsame Gespräch auch zur Erhellung und Aufklärung.

Soweit die Praxis der Diskussion und ihre Theorie. Natürlich ist Verständigung was Gutes – miteinander reden ist allemal besser als übereinander reden. Demokratie braucht das große Gespräch der Demokraten, und deliberative Prozesse sind großartige Lernprozesse. Wir brauchen mehr davon.

Aber sie dürfen nicht unser Bild von Bürgerbeteiligung prägen. Denn dann übersehen wir die weit größeren Potentiale und Chancen politischer Beteiligung. Sie liegen, über die Verständigung und die Beratung der Politik hinaus, in der Arbeit an Veränderungen.

Im deliberativen Modell bleiben Bürger passive Untertanen. Sie werden, wenn es den Regierenden so gefällt, in die Hallen und Höfe der Macht vorgeladen, reden mit anderen Untertanen und beraten am Ende die Entscheider. Dann geht es zurück nach Hause. So ein Verfahren stabilisiert das bestehende System: der Untertan bleibt Untertan, der Regierende bleibt Regierender. Aber er weiß jetzt mehr über die Erwartungen der Bürger. Vielleicht fällt die Entscheidung gefälliger aus. Auf alle Fälle kann sie besser kommuniziert werden – Bürgerbeteiligung als qualitative Meinungsumfrage.

Das ist der Paternalismus deliberativer Demokratie. Zu ihm gehört auch eine romantische Vorstellung von Politik als Diskussion. Diskurse à la Habermas gehören zur Wahrheitssuche der Wissenschaft, und selbst dort sind die Diskussionen politisch aufgeladen. Aber Politik ist keine Diskussion, und ihr Kriterium ist nicht Wahrheit. Politik ist Handeln, und ihr Kriterium ist Veränderung: „Entscheidend ist, was hinten raus kommt“. Wer Bürgerbeteiligung als Diskussion gestaltet, vermeidet die Machtfrage und verpasst die Potentiale der Veränderung. Politische Beteiligung kann diskursive Politikberatung sein, aber warum sollte sie nicht Politik selbst sein?

Am Ende frustrieren Ergebnisse, die nicht umgesetzt werden. Deliberative Empfehlungen passen in der Regel nur zufällig zur Entscheidungslogik der Politik. Da haben sich Bürger ein Stück gemeinsamen Konsens erarbeitet, und das war eine aufregende Erfahrung mit wichtigen demokratiepädagogischen Effekten – aber dieser Konsens reicht in der Regel nicht zur Umsetzung. Das macht traurig. Es fördert den Zynismus über die Bürgerferne der Politik.

Was setzen wir dagegen? Politische Beteiligung sollte nicht als deliberative Politikberatung, sondern als kollaborative Politik verstanden werden. Dann beteiligen sich Bürger selbst an der Politik, statt darauf zu warten, dass sie zur Beteiligung gebeten werden. Dann handeln sie gemeinsam, um zu verändern, statt Argumente zusammen zu fassen, um andere zu beraten. Wer selbstbestimmt Verantwortung für öffentliches Handeln übernimmt, ist kein Untertan – er ist emanzipierter Bürger. Die Machtfrage wird gestellt und beantwortet: der Bürger ist der Souverän der Demokratie. Und Demokratie wird zum Gemeinschaftswerk – mehr dazu an dieser Stelle und in Zukunft.

Dr. Christopher Gohl ist Associate der stiftung neue verantwortung.

Quelle: http://www.cicero.de/blog/stiftung-neue-verantwortung/2012-03-23/deliberative-demokratie-ist-purer-paternalismus

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