Fall Schwazer. Die Kalcher Tragödie, TZ 080812

Die Heuchelei im Fall Alex Schwazer ist unerträglich. Der des Dopings überführte Olympiasieger aus Kalch wird gejagt wie ein Breivik des Sports. Aber nur weil er so blöd war, sich erwischen zu lassen, ist der 27-Jährige kein schlechter Mensch.
von Artur Oberhofer

Wenn jemand sich nur mehr mit vier Fingern an der Dachrinne festhalten kann, dann haben die Heuchler bekanntermaßen Hochzeit. So auch im Fall Alex Schwazer. Ein „Judas“ sei er, titelte eine nationale Zeitung. Ein „Verräter“. Sportfunktionäre, die selbst soviel Dreck am Stecken haben, dass man damit ein Staubecken auffüllen könnte, spielen jetzt die Saubermänner, Kommentatoren die Moralisten. Und von den Paparazzi wird Alex Schwazer gejagt wie ein Breivik des Sports.

Doch was ist wirklich passiert? Alex Schwazer hat einen Blödsinn gemacht. Einen Riesenblödsinn. Unverzeihlich! Aber: Der 27-Jährige hat sich, erstens, mit seinem Fehlverhalten selbst am meisten bestraft. Da muss man nicht mehr nachtreten, erst recht nicht in einer Zeit, wo die „EPO-Lutscher“ – so wird Schwazer im Internet despektierlich betitelt – mitten unter uns sind. Bei Amateur-Radrennen wird gedopt, was die Adern halten, sogar die Rösser bei populären Reitveranstaltungen werden zu Höchstleistungen gespritzt. Und der Profisport? Kann man eine Tour de France ohne Doping gewinnen? Kann eine 16-Jährige urplötzlich schneller schwimmen als ein Mann? Sind die fleischgewordenen Raketen auf der 100-Meter-Aschenbahn wirklich von Gott geschaffen?Der Sport ist, wie Reinhold Messer richtig sagt, zu einem Zirkus verkommen, mit dem kleinen Unterschied, dass beim Sport die Affen nicht in der Manege tanzen, sondern auf den Tribünen sitzen. Nehmen wir den Fußball: Da klatschen die Fans ihren superbezahlten Lieblingen zu, die das Spiel vor dem Anpfiff bereits verkauft haben. Lance Armstrong war jahrelang der Gott auf dem Drahtesel. Heute weiß man, dass er eine Apotheke auf zwei Beinen war.

Der Hochleistungssport ist nun einmal die schmutzigste Nebensache der Welt. Man kann und soll das Verhalten von Alex Schwazer nicht schönreden. Aber man sollte so fair sein und den Fall in einen Gesamtkontext stellen.Vor dem Sportler Schwazer kommt der Mensch Schwazer. Alex Schwazer war nie ein „normaler“ Sportler. Er war einerseits ein Gefangener seines (möglicherweise krankhaften) Ehrgeizes, der sich über eine Silbermedaille so ärgern konnte wie ein anderer Profi über Blech. „Ich wollte der Beste und Schönste sein“, sagte Schwazer nach den Misserfolgen vor zwei Jahren bei der EM in Barcelona. Damals, 2010, hatte Alex Schwazer zu einem ersten Befreiungsschlag angesetzt, als er verblüffend offen über sein Sportler-Burnout sprach. Wenn man sich die Interviews von damals vergegenwärtigt und sie im Lichte der jüngsten Ereignisse liest, wird einem bald klar: Der bescheidene, bodenständige Naturbursch aus Kalch hat sich in der Glitzer- und Glamourwelt des Hochleistungssports nie richtig wohl- und schon gar nicht zuhause gefühlt. Er hat diese Welt als eine Schlangengrube empfunden, in der sie einem – O-Ton Alex Schwazer – „in den Arsch kriechen“, wenn man die Goldene um den Hals hängen hat, und in der sie einem in den Hintern treten, wenn es „nur“ zu Silber langt.

Die Botschaft war klar: Er sei keine Maschine, sondern habe auch eine Seele. Dass er durch seine Liasion mit Carolina Kostner denn auch noch zu einem Zielobjekt des gnadenlosen Boulevards geworden ist, hat Alex Schwazer, der – O-Ton – „am liebsten wie ein normaler Jugendlicher gelebt“ hätte, zusätzlich belastet. Der Leistungssport war für ihn nicht ein Ventil, sondern wurde zum Hamsterrad. Es war eine Welt, die nicht die seine war. Er vermutete (wohl nicht zu Unrecht), dass seine schärfsten Konkurrenten dopen, und irgendwann wird der Bub aus Kalch halt in Versuchung geraten sein. Aus Schwazers ersten Kommentaren lässt sich herauslesen: Er hat nicht zur EPO-Spritze gegriffen, weil er gewinnen wollte, sondern weil er, der schon eine Goldene hat, nicht versagen wollte.

Auch hinter diesem Verhalten verbirgt sich eine Botschaft bzw. ein Hilfeschrei: In der heutigen Welt darf man keine Schwäche zeigen. Doch Alex Schwazer gehört nicht ins Wachsfigurenkabinett der Schwerverbrecher des Sports. Ein Gradmesser ist die kriminelle Energie: Wer sich so dumm anstellt wie Alex Schwazer – der das Uralt-Dopingmittel EPO übers Internet bestellt hat –, ist nicht kriminell, sondern – mit Verlaub – einfach nur dumm oder naiv. Und auch wenn Alex Schwazer das EPO von dem berüchtigten Arzt Michele Ferrari erhalten haben sollte: Er wäre dann allenfalls ein Depp, aber kein Verbrecher.

Alex Schwazer ist ein Grenzgänger, immer gewesen. Jene, die den Kalcher jetzt verdammen, sollten sich Alex Schwazers erste Kommentare noch einmal genauer anhören: Er sagte, er traue sich nicht mehr heim zu seinen Eltern, weil er sich so sehr schäme. Sein Leben sei vorbei, sagte er wörtlich der „Gazzetta dello Sport“. Ja, spinnen wir? Alex Schwazer hat niemanden umgebracht. Und wenn jetzt selbst hiesige Sportfunktionäre sagen, Schwazer sei kein Vorbild für die Jugend, dann sagt man der Jugend nicht die Wahrheit. Denn die traurige Wahrheit ist: Sport auf einem gewissen Niveau, mit Ausnahme von Schach und Preiswatten, ist ohne Doping nicht möglich!

Der Naturbursch aus Kalch hat die Welt des Hochleistungssports immer als eine Schlangengrube empfunden, in der sie einem „in den Arsch kriechen“, wenn man die Goldene um den Hals hängen hat, und in der sie einem in den Hintern treten, wenn es „nur“ zu Silber langt.Wer das verneint, lügt sich selbst in den Sack. Anstatt Alex Schwazer zum Aussätzigen zu erklären, sollte es jetzt primär darum gehen: Wie kann man einen 27-Jährigen – egal ob Sportler oder Tischler oder Uni-Student –, der noch sein ganzes Leben vor sich hat, aus dem Schwarzen Loch, in das er gefallen ist, wieder herausziehen? War die EPO-Spritze Alex Schwazers zweiter Befreiungsschlag nach der Burnout-Beichte? Eine Verzweiflungstat, weil er nichts sehnlicher wünscht, als wieder in ein normales Leben zurückzukehren?

Alex Schwazer ist ganz sicher nicht der einzige Teilnehmer der Olympischen Spiele, der gedopt war, er ist nur einer der wenigen, der so blöd war, sich erwischen zu lassen. Deswegen ist er kein schlechter Mensch. Als jungen, äußerst sensiblen Burschen wünscht man Alex Schwazer zuallererst, dass er an dieser unguten Geschichte nicht zerbricht. Der Kalcher wird es verkraften, wenn die Sponsoren den Geldhahn zudrehen. Die Carabinieri, so hieß es gestern, wollen ihn unehrenhaft entlassen, womit der Kalcher auch seine finanzielle Absicherung verlöre.

Am Geld wird Alex Schwazers Neubeginn nicht scheitern, denn in seiner bisherigen Karriere dürfte er mehr als eine halbe Million Euro verdient haben. Geld interessiere ihn nicht, hat Alex Schwazer immer betont. Vielleicht ist er wirklich nur dann glücklich, wenn er der Bergmensch sein kann. Er hoch oben in Kalch, mit seiner Carolina, ein paar Kinderlen machen …Als am Montag seine Welt zusammengebrochen ist, hat Alex Schwazer eiligst sein Karriereende verkündet. Doch auch einer sportlichen Wiederauferstehung stünde, zumindest vom Alter her, nichts im Wege. Als „reuiger Täter“ würde Alex Schwazer mit einer zweijährigen Sperre davonkommen. 2016, bei den Spielen in Rio, wäre er erst 31, das ideale Alter für einen Geher. Das Prinzip der zweiten Chance sollte auch für ihn gelten. Anstatt Alex Schwazer zum Aussätzigen zu erklären, sollte es jetzt darum gehen: Wie kann man einen 27-Jährigen, der noch sein ganzes Leben vor sich hat, aus dem Schwarzen Loch, in das er gefallen ist, wieder herausziehen?

 

„Bin keine Maschine“

Im August 2010 hatte Alex Schwazer in einem Tageszeitung-Interview ein verblüffendes Geständnis abgelegt: Ja, sagte der Kalcher, er sei ausgebrannt. Die wichtigsten Passagen.

Stichwort: Burnout bei Sportlern
„Außenstehende können meine Situation vielleicht nicht nachvollziehen. Ich habe jahrelang auf ein Ziel hin trainiert, wollte Olympiasieger werden, und ich bin Olympiasieger geworden. Nur: Wenn ich als Olympiasieger eine Pause eingelegt hätte, das hätte niemand verstanden.Ich hätte nach Peking eine Pause gebraucht. Ich bin keine Maschine. Wenn  jemand ein so großes Ziel erreicht, dann hat er zunächst einmal das Gefühl: Oh, bärig, jetzt kann ich den Erfolg genießen und eine Pause machen, ausschnaufen. Ich habe leider das Gegenteil gemacht.“

Stichwort: Innere Ausgeglichenheit
„Ich habe noch mehr gewollt, und das ist nach hinten losgegangen. Ich wollte alles zerreißen und habe meine innere Ausgeglichenheit verloren. Vorher hatte mir das Training Spaß gemacht, doch plötzlich war es umgekehrt. Die vergangenen zwei Jahre habe ich nur trainiert um zu gewinnen, weil ich der Beste und der Schönste sein wollte. Ich dachte, dass es mir dann gut gehe. Dem war aber nicht so. Ich will jetzt wieder wie ein ganz normaler 25-Jähriger sein.“

Stichwort: Hochleistungssport
„Ich habe in den vergangenen Jahren nie eine Pause gemacht, immer nur hart trainiert. Die Menschen haben keine Vorstellung, was es heutzutage heißt, Hochleistungssportler zu sein. Bei mir kommt noch hinzu, dass ich nicht nur beinhart trainiert, sondern dabei auch noch übertrieben habe.

“Stichwort: Freude
„Bis Peking habe ich ein Leben gemacht, das mir Freude bereitet hat, ich hatte das Ziel Olympia vor Augen. Dann habe ich gewonnen, dann kennt dich plötzlich jeder, jeder leckt dir den Arsch. In dieser Situation denkst du nicht an eine Pause, auch wenn alles streng ist, du denkst nur daran, den Erfolg zu bestätigen. Viele Sportler haben nach einem Olympiasieg Schwierigkeiten.

“Stichwort: Unbeschwertheit
„Ich habe nach Peking noch härter trainiert. Vielleicht hätte ich das Gegenteil tun und öfter zu einer Fete hingehen sollen. Ich habe die Unbeschwertheit verloren, und ich habe die Freude verloren, mich anzustrengen. In Barcelona (bei der EM) habe ich auf dem Podium gestanden, aber ich hatte mit der Silbermedaille keine Freude, null Emotionen, das war schiach! Ich habe mir gedacht: Auf dem Podest zu stehen und keine Freude zu haben, das kann nicht sein!“

Stichwort: Geld
„Ich habe nie an Geld gedacht, Geld sagt mir wenig. Ich habe auch keine Ahnung, wie viel ich verdient habe, das interessiert mich nicht. Ich werde erst nachschauen, wie viel Geld ich habe, wenn ich mir irgendwann ein Haus baue. Ich mache den Sport nicht, um gut zu verdienen. Wenn ich etwas anderes machen würde, würde ich vielleicht gleich viel verdienen, müsste mich aber hundertmal weniger anstrengen.„Ich sage es noch einmal: Die Leute wissen nicht, was es heißt, Spitzensportler zu sein.“

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