Valentin Braitenberg: Gedanken zur Heimat (1997)

Neue Südtiroler Tageszeitung, 20.09.2011

In der vergangenen Woche wurde der Gehirnforscher und ehemalige Direktor des Max-Plank-Institutes, Valentin Braitenberg, begraben. 1997 schrieb er für die ,,Tageszeitung“ einen Artikel, der allen Heimatbeschwörern die Suppe versalzte. Zum Gedenken an ihn nachstehend sein damaliger Artikel.

„Gegeben in unserer Stadt Tübingen“. So unterzeichnet Kaiser Ferdinand die erste Tiroler Landesordnung post Gaismair; Anno Domini 1526. Was die Habsburger damals in Tübingen verloren hatten, weiß ich nicht. Geschichte ist nie mein Fach gewesen, ich kann ohne Geschichte gut leben. Andere offenbar nicht. Mir klingen die Worte des jungen Mannes im Ohr ,,ein angehender Honoratior auf den Sprossen des Südtiroler Musikantenstadels“ soll er sein, der neulich im Vinschgau vom ,,historischen Unrecht“ sprach, das unserem Land nach dem Ersten Weltkrieg zuteil wurde. Junger Mann, was geht uns der Erste Weltkrieg an, habt ihr den Zweiten verschlafen, der alles Rechtschaffene, Althergebrachte auf den Kopf gestellt hat, alles Deutschtümelnde endgültig der Lächerlichkeit preisgegeben? Umdenken, Neudenken,Vergessen – ist die Parole, und nicht erst heute. Die Probleme, die wir zu lösen haben, liegen nicht hinter uns, sondern vor uns und vor allem um uns. Es leben heute auf der Welt fast so viele Menschen wie insgesamt seit Adam und Eva geboren wurden, bald werden es mehr sein (das hängt mit dem exponentiellen Wachstum der Menschheit zusammen). Mit dieser Explosion, die die Welt ins Wanken gebracht hat, müssen wir fertig werden, nicht über das Abbrennen der Zündschnur philosophieren, das sie ausgelöst hat. Die alten Regeln, die Ideale sind bestenfalls unnütz, oft auch schädlich. Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren. Nie gehört? Wohl zu jung für einen Achtundsechziger Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment. Interessant, wie auch diese Sprüche schnell verstauben. In Amerika hört man das Wort Establishment kaum mehr, jedenfalls nicht in der achtundsechzziger Bedeutung, dafür aber viel von den Vorzügen des monogamen Pennens. Es ist alles im Umbau, wir müssen aufpassen und neue Orientierungen suchen.

Unsere Stadt Tübingen, meine Stadt Tübingen ist es wieder für mich Hier ist gut sein, bei den Schwaben, die die Kehrwoche erfunden haben und die Relativitätstheorie. Die, so wird gesagt, zu gescheit sind für ihren Horizont. Ein begrenzter Horizont scheint nicht schlecht zu sein, wenn man in die Tiefe gehen will, Hier bin ich 29 Jahre lang meiner Lieblingsbeschäftigung nachgegangen. Man schickt mir regelmäßig die von der Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne herausgegebene Zeitschrift in mein Tübinger Haus, ein Mißverständnis, denn ich bin hier nicht fremd. Heimat ist für mich der Ort, wo ich abends gern in mein Bett gehe und morgens gern aufstehe. Es hat in meinem Leben mehrere solche Orte gegeben.

Und doch will ich nicht leugnen, daß der Grund dafür, daß ich in den letzten Jahren einen großen Teil meiner Zeit den Problemen einer Bozner Akademie oder Universität gewidmet habe, so etwas war wie eine heimatliche Verbundenheit mit dem Ort, an dem ich geboren wurde. Ich frage mich, ob diese Zeit verloren war. Ich glaube nicht, denn ich habe dabei vieles erfahren, was mich beeindruckt hat, nicht immer positiv Einer hat mich gefragt, was mich wohl bewogen hat, Bozen den Rücken zu kehren und jetzt wieder mehr mit Schwaben und Trentinern imizugehen. Ich bin ihm die Antwort schuldig geblieben. Sie fällt mir nicht leicht, nicht etwa, weil mir die Auseinandersetzung peinlich wäre, sondern weil ich mich auf so viel Unausgesprochenes beziehen muß, das schwer zu fassen ist.

Das Unheimliche an meinen Gesprächen mit den Landsleuten war, daß unter ihnen ein Konsens zu bestehen schien, dem ich mich nicht anschließen konnte, und dem auch in der Diskussion nicht beizukommen war, schon allein, weil er niemals klar formuliert wurde. Ich will niemandem Worte in den Mund legen, die er nicht gesagt hat, und keinen verraten, der Unglaubliches tatsächlich ausgesprochen hat, sondern lieber meine eigenen, zum Teil ganz banalen Aussagen aufzählen, mit denen ich wiederholt auf stumme Verständnislosigkeit gestoßen bin.

Erstens: Recht und Unrecht sind Begriffe, die ich nicht auf die großen Bewegungen der Geschichte anwenden möchte, aus denen unsere Staatsgrenzen entstanden sind. Wenn ich richtig verstanden habe, so gehen diese größtenteils auf kriegerische Auseinandersetzungen zuriick (z.B. die Annexion Südtirols an Italien) oder auf fürstliche (z.B. die Annexion Tirols an Osterreich im Mittelalter), zwei Faktoren, die wir Heutigen am liebsten aus unserem Bewußtsein streichen möchten.

Zweitens: Europäisches Denken ist dieselbe Geisteshaltung, die man in anderen Zeiten als Volksverrat“ bezeichnet hatte. Die Tatsache, daß einer mit einer bestimmten Sprache aufgewachsen ist, verpflichtet ihn nicht, sich die Verteidigung des Territoriums einzusetzen, in dem seine Sprache gesprochen wird, oder für die zahlenmäßige Konsistenz seiner Volksgruppe“. Dies auch nicht, wenn er einer verschwindenden Minderheit angehört, und schon gar nicht, wenn er z.B. deutsch spricht, eine wahrhaftig nicht vom Aussterben bedrohte Sprache. Ich nehme es keinem Indianer übel, wenn er das amerikanische Englisch einer der tausend Indianersprachen vorzieht, und keinem Elsässer; der, wenn es ihm so gefällt, sein Alemannisch zugunsten der französischen Sprache vernachlässigt. Auch dafür, daß polnische und russische Juden in Israel und anderswo sich nicht für die Erhaltung ihres Deutschtums erwärmen können (ihr Yiddisch oder Judendeutsch ist vom Hochdeutsch kaum weiter entfernt als unser Südtiroler Dialekt) gibt es verständliche Gründe.

Drittens: Die Region Südtirol-Trentino könnte in ihrer ethnischen Ausgewogenheit ein ideales Musterländle für europäisches Zusammensein abgeben, Es wäre jammerschade, sie in zwei Stücke zu zerteilen, zumal in keinem der beiden das Problem der Mehrsprachigkeit aus der Welt geschafft wäre, sondern im Gegenteil, wegen des Ungleichgewichts zwischen Mehrheit und Minderheit nur noch schwerer zu handhaben wäre. Die Trentiner haben, wie mir scheint, an einem solchen deutsch-italienischen Gebilde mehr Freude als ihre Bozner Brüder, und haben deshalb auch gar kein Interesse, den deutschen Anteil zu torpedieren. Beide sollten wissen, daß das Gerede von einer europäischen Brückenfunktion wenig glaubhaft wirkt, wenn sie sich nicht einmal als nächste Nachbarn verständigen können.

Viertens: Das Zusammenleben von Deutschen und Italienern könnte zu einem Liebesverhältnis werden, in dem jeder Partner auf den anderen stolz ist und nicht auf ihn verzichten möchte. Um das zu erreichen, wäre gut, alles zu vermeiden, was die nationalen Charakteristika karikaturhaft betont, wie militärische und quasi militärische Aufmärsche in Uniformen aus der Mottenkiste, um dafür das Liebenswürdige beiderseits, trentinische Volkslieder und tirolische Volkstänze, deutsche Stuben und italienische Geigen als gemeinsames Kulturgut zu pflegen, wie Knödel und Polenta, die ja schon längst verbindend wirken. Der häßliche Begriff der Toleranz sollte abgeschafft werden, denn er vermittelt das Gefühl, daß das Ertragen der Eigenschaften des anderen ein gewisses Maß an Überwindung kostet.

Fünftens: Der Gebrauch der einen, der anderen oder beider Sprachen sollte möglichst wenig reglementiert werden. Der Unterricht in der Zweitsprache sollte ein verlockendes Angebot sein, kein Zwang. Das Recht auf Einsprachigkeit, wie das Recht auf Ignoranz im allgemeinen, ist sakrosankt. Es werden sich bald, beiderseits der Sprachgrenze zwei Kasten herausbilden, die der Sprachgewandten, die sich in Europa frei bewegen und entsprechende Vorteile genießen, und die der Ortsgebundenen. Das ökonomische Gefälle zwischen den beiden wird von selbst dafür sorgen, daß ein Sog in Richtung auf Mehrsprachigkeit entsteht (in beiden Provinzen), der sicher mehr bewirkt als feste Regeln im Schulsystem.

Sechstens: Es ist höchste Zeit, daß in Südtirol, neben Tirolerdeutsch, Italienisch und Ladinisch, als vierte Landessprache Hochdeutsch eingeführt wird, Zur Zeit sind es sehr wenige, die Deutsch als Muttersprache erwerben. die meisten ist es die zweite Sprache, und der Gebrauch des Deutschen im Munde und aus der Feder von Südtirolern zeigt oft die Schwächen einer zu spät erlernten Sprache. Vor allem aber ist der durchgehende Gebrauch des Dialekts auch bei offiziellen Gelegenheiten unhöflich den Italienern (und anderen Europäern) gegenüber, die vielleicht Goethe und Kafka lesen können, aber in Bozen verloren sind.

Siebtens: Den Südtirolern fällt es nicht leicht, wenn sie im Ausland nach ihrem Ursprungsland gefragt werden, Italien zu sagen, wobei nicht nur Ablehnung (das ,,historische Unrecht“) im Spiel ist, sondern sicher auch und vor allem die Scheu, sich eine Zugehörigkeit anzumaßen, die man nicht durch entsprechende Sprachkenntnis belegen kann. Die Schwierigkeit wäre behoben, wenn der Welt, und vor allem auch den Italienern, die Tatsache geläufig wäre, daß das italienische Volk multinational zusammengesetzt ist, mit neun offiziell anerkannten, zum Teil allerdings sehr kleinen ethnischen Komponenten (Italienisch, Ladinisch, Deutsch, Französisch, Slowenisch, Kroatisch, Griechisch, Albanisch und Katalanisch). Daß das italienische Volk beginnt, auf einige dieser unitalienischen Bestandteile stolz zu sein, zeigt der zunehmende Gebrauch von Lodenmänteln und Tirolerhiiten im italienischen Kernland. Und die Verehrung von Lilli Gruber und Reinhold Messner

Achtens: Die nationale Sammelpartei ist ein Unglück für Südtirol, solange sie als erdrückende Mehrheit in allen offiziellen Belangen das Sagen hat. Eine solche Partei zu wählen, enthebt den Bürger der Verpflichtung, sich in dem Fächer der verschiedenen politischen Meinungen zu orientieren, wirkt also der demokratischen Erziehung entgegen. Eine solche Partei hat auch soziologische Konsequenzen. Ich habe es mehrmals in Bozen erlebt, wie junge Akademiker sich im Gasthaus nach den Nachbartischen umsahen, um festzustellen, ob die Luft rein genug war, ein eventuell verfängliches Gespräch mit mir weiterzuführen. Tatsächlich könnte ihre spätere Einstellung in der Landesverwaltung durch unkonforme Äußerungen kompromittiert werden. Ähnliches habe ich früher bei Besuchen in Leipzig erlebt, aber das waren andere Zeiten. Auch in der DDR gab es, neben einigen Schattenparteien, die eine große, von der alles abhing.

Es gab noch weitere Lieblingsthemen in meinen Gesprächen mit den Landsleuten, z. B. neuntens die Volksgruppenzugehörigkeitserklärung (das so genannte Hutu-Tutsi Gesetz) und zehntens die Toponomastik. Diese Probleme könnte man gemeinsam lösen, indem man z. B. die deutschen Ortsnamen rot auf weißem Grund schreibt, die italienischen grün. Es könnte sich dann jeden wenn ihm die fremdländischen Bezeichnungen zuwider sind, eine Brille aufsetzen, eine rote, durch die man nur die grüne Schrift sieht, oder eine grüne, durch die man die rote lesen kann. Die Brille wäre dann die offen zur Schau getragene Volksgruppenzugehörigkeitserklärung.

Bozeman, Montana, USA. Ich hatte gehofft, daß mich eine Woche zusammen mit 100 amerikanischen Hirnforschern in diesem Hotel (Big Sky) auf 2500 m Höhe auf andere Gedanken bringt. Aber nein.Hier liegt Tirol in der Luft. Gottseidank klemmt meine Rollei, sonst hätte ich wieder lauter Bilder nach Hause gebracht, von denen ich nachher nicht weiß, ob es die neuseeländischen Alpen, das Schnalstal oder die Rocky Mountains waren. Die Fichten und die Latschen duften wie bei uns, nur stärker. Die Schneefelder tröpfeln, die Bäche rauschen von den Gletschern herunter wie bei uns, nur wilder. Im Wald Bären, wie bei uns, nur mehr und größere und gefährlichere. Die Sängerin abends im Hotel jodelt herz- und hirnerweichend. Man erzählt mir von den Hutterern weiter unten im Tal (Hutterites heißen sie hier), aber keiner weiß, daß es protestantische (und kommunistische) Tiroler waren, die auf dem Umweg über Rußland hierher kamen.

Montana, das Tirol Nordamerikas, ist so groß wie Deutschland nach der Wiedervereinigung. Die Einwohner sind 800.000, ungefähr so viele wie in unserer Region, oder so viele, wie es Ladiner (inklusive Friulaner) in den Alpen gibt. Bevölkerungsdichte ein Hundertstel von der in Deutschland. Hier atmet man frei. Es gibt eine mächtige ,,Los von Washington“-Bewegung. Montana ist der einzige Staat der Union, der sich keine Geschwindigkeitsbegrenzung im Autoverkehr aufzwingen ließ. Zur Strafe muß Montana seine Straßen selbst erhalten. Klingt vertraut.

Wir sind gekommen, um unten in der Stadt Bozeman (immerhin 1500 m Meereshöhe) ein neues Institut einzuweihen. Bozeman, seit hundert Jahren Sitz der Montana State University 25,000 Einwohnen 12.000 Studenten, Den Namen hat die Stadt von einem John Bozeman, Abenteurer und Weiberer, der den Bergübergang oberhalb der Stadt als eine neue Ost-West-Verbindung erschlossen hat und von Indianern ermordet wurde. Der Name klingt sonderbar unenglisch. Ob das ein Hans Bozenmann war? Vielleicht ein Hutterer.

Das Institut heißt Computational Neurobiology, zu deutsch Computer und Hirne. Rektor, Dekan und Bürgermeister sowie der Architekt, der die Pläne in der Tasche hat, schienen sich sehr zu freuen. Wir mit ihnen. Ein Stich im Herzen: wird es an der Bozner Uni, wenn die je entsteht, ein Institut geben, das so nahe an mein Interesse herankommt? Muß eine Universität 100 Jahre alt werden, bevor sie dazu reif ist? Muß sie nicht. In Trient gibt es Projekte, die ganz nach meinem Herzen sind, und einige Kollegen, die genau so interessant sind wie die in Bozeman.

Es gibt neben der Uni zwei prächtige Museen in Bozeman. Das eine, Museum of the Rockies, rollt die Geschichte der Welt vom Urknall bis zum heutigen Menschen auf, über die Kosmologie, die Geophysik, die Evolution der Pflanzen und Tiere, die Entwicklung des Menschen und seiner Kulturen. Das andere, American Computer Museum (nicht etwa Montana Computer Museum), aus der privaten Sammlung eines wohlhabenden Computerfachmanns entstanden, der uns selbst durch das Museum führt, ist in der Welt einzigartig. Es verschlägt einem den Atem, wenn man sieht, wie die schleppende Entwicklung von Recheninstrumenten seit Pascal und Leibniz in den letzten 50 Jahren im Sauseschritt zu dem Phänomen wurde, das die Welt veränderte.

In Meran wird bald ein Tourismusmuseum entstehen. Ich frage mich, ob es nicht die besseren Tiroler waren, die nach der Hinrichtung Jakob Hutters 1536 in Innsbruck (auf Grund der ‚Tiroler Landesordnung von 1526) den beschwerlichen Weg über Osteuropa in die amerikanischen Rocky Mountains gefunden haben.

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