Arnold Tribus: Totenkult

TZ, Samstag/Sonntag, 3./4. November 2012

Zu Allerheiligen war ich auf dem Friedhof, das ist halt so eine liebe Tradition. Einmal im Jahr soll man auch offiziell der lieben Menschen gedenken, die uns verlassen haben, der Eltern, der verstorbenen Freunde. Und dann trifft man zu Allerheiligen auch Leute, die man sonst nie sieht, auch das macht Allerheiligen zu einem besonderen Fest. Heuer hatte ich den sichtbaren Eindruck, dass sich so schön langsam unser Totenkult verändert, dass auch die Friedhöfe und das Gedenken an unsere Lieben, wie alles Kirchliche, ein Auslaufmodell ist. Es waren in der Kirche und dann beim Umgang weniger Leute als üblich, Junge fast keine, solides Mittelalter und aufwärts. Und was mich sehr erstaunt hat, es wurde überhaupt nicht gebetet. Man hörte ein Stimmengewirr, alle hatten sich was zu erzählen, gebetet hat niemand, weil niemand vorgebetet hat, sagt man, und vorgebetet hat niemand, weil niemand mehr vorbeten kann. Dazu kam, dass der eigentliche Pfarrer gar nicht da war, der ist zu Höherem  berufen und betreut nun weiß Gott wie viele Pfarreien, also entsandte er einen Substituten, einen fliegenden Pfarrer, einen schönen jungen Herrn, der es ja gut machte, alles dem Proporz entsprechend, alles perfekt abzogen mit den sechs Ministranten, vor allem Mädchen, alle in einer grauen Mönchskutte mit Kreuzkette (ach, wie waren unsere roten oder schwarzen Ministrantenkittel mit weißen Chorrock mit Spitzen und Kragen in der Farbe des Rocks schön, dacht ich mir, farbenprächtig irgendwie und elegant). Sofort nach der Handlung entschwand der namenslose Hochwürdenin die nächste Pfarrei, denke ich, wo er wieder dasselbe abspulte, und so einer weiteren Gemeinde beistand, die sich erst daran gewöhnen muss, das kein Pfarrer mehr da ist und dass Seelenfeiern ohne Pfarrer, ohne Rauchmantel, ohne Weihrauch keine Feiern sind. (In Tiers trug der Pfarrer schwarz statt violett, was einen Leser irritierte.) Aber der Priestermangel wird unser Land verändern, die Kultur, die Traditionen und mit ihnen auch unseren Totenkult. Der wird in dieser Form aufhören, man spürte das förmlich. Nachdem die Feuerbestattung immer mehr greift, wird es schon bald keine neuen Gräber mehr geben. Schon bald wird es auch in Südtirol möglich sein, die Asche der Verstorbenen mitzunehmen, damit sie verstreut werden kann. Noch weiß man nicht, ob es jedem freistehen wird, das Häuflein Asche an einem dem Toten lieben Ort zu verstreuen, oder ob die Bürgermeister eigene Aschenörtchen ausweisen werden. Am Anfang wird man noch ein bisschen repressiv sein, mit der Zeit wird man das liberalisieren und jeder kann mit den sterblichen Überresten tun was er will. Das ist ein regelrechter Paradigmenwechsel, der Beginn einer neuen Ära in unserem Totenkult, unserer Totenkultur. Mit der Zunahme der Feuerbestattungen werden neue Formen des Erinnerns und Gedenkens greifen, ein neuer Todes- und Totenkult wird aufkommen, ein intimer und privater vielleicht oder gar keiner, fürchte ich. Die Gemeinden freuen sich über die Feuerbestattung, weil die verbrannten  Toten weniger Platz brauchen, kein Grab, weil sie in ein  Mauerwerk geschoben werden oder verstreut. Man ist die ewigen Sorgen mit der Friedhofserweiterung los, wunderbar, man spart wertvolle Grundstücke. Wir lassen uns ja nicht einäschern, weil das unserer Kultur entspricht,  weil wir plötzlich im Totenkult dem Hinduismus nahe stehen, nein, unsere Entscheidung für die Kremierung liegt einer vulgärkapitalistische Gier zu Grunde. Man braucht keinen Platz mehr, es gibt keine Spuren mehr, aus den Augen, aus dem Sinn. Entsorgung total. Das ist der neue Totenkult, der im Ansatz bereits vorhanden und als absolut trendy gilt. Für Friedhöfe, die Magie des Geistes und der Seele sind, wird kein Platz mehr sein. Das bisherige Totengedenken wird nicht mehr lange dauern. Die Ehrerweisung für die Verstorbenen zu Allerheiligen bewegt sich auf ein totes Geleise zu und wird dann langsam aufhören.

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