Direkte Demokratie: Offener Brief an die Abgeordneten zum Südtiroler Landtag

Sehr geehrte Abgeordnete zum Südtiroler Landtag

Der I. Gesetzgebungsausschuss hat Ihnen im vergangenen Oktober das Ergebnis der Arbeit der aus den Reihen seiner Mitglieder gebildeten Arbeitsgruppe für ein neues Gesetz zur Direkten Demokratie zur Begutachtung vorgelegt.

Zum ersten Mal liegt damit nach unserer Einschätzung ein institutioneller Gesetzesentwurf zur Direkten Demokratie vor, der sich, wenn nicht durch Vollständigkeit, so zumindest durch eine halbwegs brauchbare Anwendbarkeit auszeichnet. Schon vor zwanzig Jahren haben tausende Menschen in unserem Land vorgeschlagen, solche Mitbestimmungsrechte anwendbar zu machen, inzwischen haben über 100.000 Menschen eigentlich eine schon viel bessere Regelung der Direkten Demokratie verlangt, und zweifellos sind es noch viel mehr Bürgerinnen und Bürger, die zumindest eine Regelung erwarten, wie sie mit diesem Gesetzentwurf vorliegt.

 

Zur Erinnerung:

 

1995: erstes Volksbegehren im Regionalrat für ein Gesetz zur Erweiterung der Mitbestimmungsrechte

2001: Reform des Autonomiestatutes – Landtag erhält Zuständigkeit zur Regelung der Direkten Demokratie. Der Weg für ein eigenes Landesgesetz ist frei.

2003: zweites Volksbegehren – Vorschlag zu einer landesgesetzlichen Regelung der Direkten Demokratie

2005: erstes Landesgesetz zur Direkten Demokratie (Quorum von 40%, kein Referendum über Gesetze und zu Beschlüssen der Landesregierung, kein Abstimmungsheft mit Für- und Gegenposition …)

2009: Volksabstimmung (über Volksinitiative erwirkt) – 114.884 (= 83% der Abstimmenden) Bürgerinnen und Bürger stimmen in der ersten landesweiten Volksabstimmung dem Gesetzentwurf zur Direkten Demokratie der Initiative für mehr Demokratie und 40 unterstützenden Organisationen zu. Er tritt nicht in Kraft, weil ca. 7.000 Stimmen zur Erreichung des 40%-Quorums fehlen.

2011: drittes Volksbegehren

2013: Landtag verabschiedet neues Gesetz mit alleinigen Stimmen der SVP

2013:  viertes Volksbegehren und gleichzeitig Antrag auf bestätigendes/ablehnendes Referendum gegen das Gesetz des Landtages

Februar 2014: bestätigendes/ablehnendes Referendum – 65% der abstimmenden Bürgerinnen und Bürger lehnen den allein von den SVP-Abgeordneten im Landtag beschlossenen Gesetzentwurf ab, weil er zwar viel verspricht, aber so gut wie gar nicht anwendbar ist.

Sommer 2014: Die Bemühungen der Initiative fmD um einen Runden Tisch, um gemeinsam mit der politischen Vertretung ein neues Gesetz zu schreiben, werden abgelehnt. Etwas später wird auch die Forderung abgelehnt, die Bevölkerung zu beiden Gesetzestexten abstimmen zu lassen – jenem der Volksabstimmung von 2009 und dem neuen des Landtages.

 

Seit über 20 Jahren schon wird der Landtag von der Zivilgesellschaft angehalten, sich mit der Materie auseinander zu setzen. Nach der Ablehnung des vom Landtag beschlossenen Reformvorschlags im Referendum 2014 hat dieser den Gesetzgebungsausschuss beauftragt, einen neuen Vorschlag auszuarbeiten. Dieser sollte in einem partizipativen Verfahren zustande kommen.

 

Zur Erinnerung hier die Etappen des partizipativen Prozesses:

 

–                  Oktober – November 2014: In Diskussionsrunden mit den Bürgerinnen und Bürgern in allen Bezirken des Landes sind deren Vorstellungen und Erwartungen zu einem neuen Gesetz gesammelt und dann veröffentlicht worden;

–                  Jänner – März 2015: In Workshops haben Vertreter von über 50 Vereinen und Verbänden die Hauptthemen und -fragen eines solchen Gesetzes vertieft. Deren Positionen sind dokumentiert und dem Gesetzgebungsausschuss vorgestellt worden;

–                  Frühjahr 2015: Vom Gesetzgebungsausschuss ist eine Arbeitsgruppe aus den Reihen seiner Mitglieder beauftragt worden, auf der Grundlage dieser Bestandsaufnahme den Gesetzentwurf zu schreiben;

–                  zu strittigen Fragen hat die Arbeitsgruppe Experten beigezogen und auch im Austausch mit Organisationen nach Lösungen gesucht;

–                  März 2016: Aufbau und Schwerpunkte des Gesetzentwurfes wurden wiederum den Organisationen vorgestellt und diese angeregt, in strittigen Punkten nach Einigung oder alternativen Lösungen zu suchen;

–                  April – Mai 2016: Die Ergebnisse des gesamten Prozesses sind wiederum in den sieben Bezirken des Landes den interessierten Bürgerinnen und Bürgern vorgestellt worden. Zuletzt wurden noch Experten eingeladen das Ergebnis zu diskutieren.

 

Die Vorsitzende des Gesetzgebungsausschusses Magdalena Amhof selbst bezeichnet den Gesetzesentwurf als ein gelungenes und in weiten Teilen leicht verständliches Papier. Zum ersten Mal würde mit ihm auch deliberative Bürgerbeteiligung ihren verdienten Platz finden. Maßnahmen wie das Büro für politische Bildung und Bürgerbeteiligung oder zur Transparenz und Information bei direktdemokratischen Entscheidungs- und Bürgerbeteiligungsprozessen seien nun definitiv verankert. Alles in allem sei „das Ergebnis ein guter Kompromiss – ausgearbeitet in einem partizipativen Prozess“.

Zum Verfahren dieser Gesetzesarbeit stellen wir fest:

Mit ihm ist versucht worden, eine neue und aus unserer Sicht produktivere und befriedigendere Praxis der gesetzgebenden Arbeit in zwei wesentlichen Punkten einzuleiten:

  1. mit einer Zusammenarbeit jenseits von Landtagsmehrheit und -opposition und
  2. mit Formen der direkten, öffentlichen Beteiligung der Zivilgesellschaft zur Festlegung des Rahmens und der Inhalte der zu regelnden Materie, ihrer Einbeziehung sowie der Beiziehung unabhängiger externer Experten bei der Suche nach Lösungen und Alternativen in strittigen Punkten.

Kritisch anzumerken wäre, dass den am Prozess Beteiligten keine Gelegenheit geboten worden ist, sich fachlich einzuarbeiten und sie damit in der Gefahr standen, aus dem Stand heraus vorgefertigte Positionen zu vertreten. Auch fehlten die Zeiten für einen vertiefenden Dialog unter den Beteiligten, mit dem vorgefasste Positionen hinterfragt hätten werden können.

Zum Ergebnis dieser Gesetzesarbeit stellen wir fest:

So lobenswert die Art und Weise ist, wie der Gegenstand der Materie aufgearbeitet, Konfliktpunkte bearbeitet worden sind und es das Bestreben war, die vorgebrachten Positionen zu berücksichtigen und ihnen in Formen des Kompromisses Rechnung zu tragen: Unbeachtet geblieben ist dabei das in einer Demokratie maßgebliche Prinzip der Gewichtung der Positionen und Berücksichtigung von Mehrheitspositionen. Der Kompromiss hat zwischen grundsätzlich gleich gewichteten, teilweise völlig entgegengesetzten Positionen stattgefunden, ohne zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß sie tatsächlich vertreten wurden. Ausschlaggebend war damit letztlich wieder eine parteipolitische Auswahl und Festlegung der Regeln entsprechend den herrschenden Mehrheitsverhältnissen im Landtag. Einzelne berechtigte und beim partizipativen Prozess stark vertretene Erwartungen sind auf diese Weise überhaupt nicht berücksichtigt worden.

Das vorrangige Bestreben beim Verfassen des Gesetzestextes war, eine gute Anwendbarkeit und Verständlichkeit zu gewährleisten. Erstere ist für das Instrument der Gesetzesinitiative gelungen, nicht aber für das Verwaltungsreferendum, ein Instrument, das von der Zivilgesellschaft ganz entschieden eingefordert wird. Beispielsweise wäre ein Referendum, wie es als adaptierte Volks-befragung zum Sanierungskonzept für den Flugplatz Bozen durchgeführt worden ist, auf der Grundlage dieses Gesetzesvorschlags nicht möglich gewesen.
Dem Anspruch hingegen, einen einfachen Gesetzesvorschlag zu schreiben, sind beispielsweise so wichtige Elemente zum Opfer gefallen wie
–    die Möglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger, zwischen einem Initiativvorschlag von       Promotoren und einem Gegenvorschlag des Landtages oder
–    in einer unverbindlichen Volksbefragung zwischen verschiedenen Optionen auswählen oder
–    beispielsweise auch über Verwaltungsakte abstimmen zu können, die nur für eine begrenzte        Zahl von Gemeinden bestimmend sind.

Zweifellos beinhaltet der Gesetzentwurf gegenüber dem geltenden Gesetz wesentliche Verbesserungen, und durchaus begrüßenswert sind jene Neuerungen, die die deliberative Bürgerbeteiligung betreffen. Das alles kann aber nicht über die Mängel und die Unvollständigkeit des Gesetzentwurfes hinwegtäuschen, die Folge der parteilich diktierten Grenzen der Mitbestimmung sind.

Dennoch: Der von der Arbeitsgruppe Amhof/Foppa/Noggler vorgelegte Gesetzentwurf ist eine weitere Stufe auf dem Weg zu jenen Selbstbestimmungsrechten der Bürgerinnen und Bürger, die ihnen als dem Souverän zustehen und die ihnen nicht auf Dauer vorenthalten werden können. Im Gesetzentwurf selbst ist die Verpflichtung zur fünfjährigen Revision des Gesetzes festgelegt.

Deshalb erwarten sich die unterzeichnenden Organisationen vom Südtiroler Landtag, dass vorerst einmal dieser Gesetzentwurf – nach wieder und wieder erfolgter Vertagung der Einbringung – ehestens verabschiedet wird und zwar ohne jegliche weiteren Abstriche, sondern möglichst mit den augenfällig nötigen Verbesserungen. Darauf haben die Menschen in unserem Land ein schon viel zu lang missachtetes und mit unbrauchbaren gesetzlichen Regelungen bisher untergrabenes Anrecht.
Wir dürfen Sie versichern, dass die Geduld weiter Teile der Zivilgesellschaft in dieser Sache erschöpft ist und ein noch längeres Hinwarten nicht hingenommen wird. Umfragen zeigen auch bei uns, dass über 80% der Wahlberechtigten Mitbestimmungsrechte wollen, die – das versteht sich von selbst – auch gut anwendbar und wirksam sind.
Deshalb kündigen die unterzeichnenden Organisationen hiermit an, dass mit dem 1. Mai dieses Jahres die Unterschriftensammlung zur Einbringung dieses Gesetzentwurfes im Landtag als Volksbegehren beginnen wird, wenn er bis zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht oder womöglich mit wesentlichen Abstrichen verabschiedet sein sollte.

 

 

 

 

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